Wenn wir heute an eine klassische Gitarre denken, haben wir unweigerlich das Bild der Gitarre vor Augen, die der spanische Gitarrenbauer Antonio de Torres (1817-1892) in den 1860er entworfen hat. Die Torres-Gitarre ist für uns das Urmodell der klassischen Gitarre, ja die klassische Gitarre schlechthin. Dass wir uns heute nur noch eine Grundform der klassischen Gitarre vorstellen können, ist alles andere als selbstverständlich, wenn man auf die Entstehungszeit der Torres-Gitarre zurückblickt. Das Torres-Modell war um 1860 nur eines von vielen Gitarrenmodellen in Europa. Neben den Erfolgsmodellen der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts - Gitarren von Lacôte, Stauffer und Panormo - gab es Wappengitarren, Bogengitarren, Gitarren mit längsovalen Schalllöchern sowie mehrsaitige Gitarren mit sieben, acht oder zehn Saiten. Diese Vielfalt verschwand in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts.
Dass sich das Torres-Modell gegenüber allen anderen Gitarrenmodellen durchsetzen konnte, lag daran, dass Francisco Tárrega (1852-1909), der Begründer der neuen spanischen Gitarrenschule, die Torres-Gitarre allen anderen Modellen vorzog. Tárregas Erben Miguel Llobet, Emilio Pujol und Andrés Segovia machten die klassische Gitarre - und mit ihr die Torres-Gitarre - durch weltweite Tourneen bekannt. Insbesondere Andrés Segovia (1893-1987) verhalf der von Manuel Ramírez und Hermann Hauser weiterentwickelten Torres-Gitarre zu großer Popularität. Da er seine Gitarre für das fortschrittlichste Instrument hielt, das die bestmögliche Interpretation aller Gitarrenwerke garantierte, spielte er auf ihr nicht nur moderne Werke, sondern auch solche, die für Laute, Vihuela, Barock- oder Biedermeiergitarre komponiert worden waren. Darüber hinaus bediente er sich modernster Spieltechniken, um die Gitarrenwerke der verschiedenen Musikepochen bestmöglich zu interpretieren. So finden wir in seiner Interpretation alter Gitarren- und Lautenmusik alle Merkmale, die wir mit der Spieltechnik der neuen spanischen Gitarrenschule verbinden: den eleganten Anschlag, den weichen und lyrischen Ton, das delikate Vibrato, die zarten Akkordbrechungen, das breite Spektrum der Klangfarben, die flexible Tempogestaltung und die feinen Schattierungen in der Dynamik.
Segovias Einfluss auf die Gitarrenwelt war immens. Mit seiner vollendeten Technik und Spielkultur setzte er Maßstäbe, an denen sich Gitarristen messen lassen mussten. Da die Gitarrenkunst durch Segovias Wirken neue Höhen erreichte, störte es niemanden, dass er die Musik vergangener Epochen dem Klangideal seiner Zeit anpasste und auf einem Instrument spielte, das zur Zeit der Komposition noch gar nicht existierte. Die Folge dieser Haltung war eine Uniformierung der alten Lauten- und Gitarrenmusik, die durch eine Vereinheitlichung der Spieltechnik gefördert wurde.
Segovias Einfluss auf die Gitarristik kam erst in der Nachkriegszeit voll zum Tragen. Die Gitarrenwelt feierte den Aufstieg und die Anerkennung der klassischen Gitarre als Konzertinstrument. Das Repertoire der Gitarrenmusik wurde ständig erweitert. Da es relativ wenig neue Kompositionen für die Gitarre gab, wurden zahlreiche Werke der Renaissance, des Barock und der Klassik in das Gitarrenrepertoire aufgenommen und der neuen Spieltechnik angepasst. In der übrigen Musikwelt wurden jedoch Zweifel an der These von der stetigen Aufwärtsentwicklung der Musik, der zunehmenden Perfektionierung der Spieltechnik und dem stetigen Fortschritt im Instrumentenbau laut. Es setzte sich die Erkenntnis durch, dass die Spieltechnik einer Epoche der jeweiligen Musik am besten gerecht wird und die Instrumente einer Epoche die besten Instrumente für die Musik ihrer Zeit sind.
In den 1960er und 1970er Jahren befreiten die Pioniere der Originalklangbewegung die Alte Musik von der Patina des spätromantischen Orchesterklangs und ließen sie in neuem Glanz erstrahlen. In den 1980er Jahren erschlossen Vertreter der historischen Aufführungspraxis das Repertoire der Wiener Klassik. In den 1990er Jahren wandten sie sich der Musik der Früh- und Hochromantik zu. Inzwischen wird sogar die Aufführungspraxis der Spätromantik historisch erforscht, also jener Epoche, von der sich die Originalklangbewegung musikalisch abgrenzen wollte.
Die Gitarrenmusik blieb von dieser Entwicklung lange Zeit unberührt. Zu stark war die Wirkung der Persönlichkeit Segovias. Pionierarbeit leisteten in den 1970er Jahren Thomas F. Heck und Brian Jeffery. Ihre wissenschaftlichen Arbeiten stellten die Musik Giulianis und Sors in ihren historischen Kontext. In den 1980er Jahren erschienen bei Tecla Editions Faksimile-Ausgaben der Werke Giulianis und Sors, und der Kölner Gitarrenbauer Bernhard Kresse fertigte Nachbauten alter Meistergitarren. Nach und nach erkannte man die Vorzüge der Biedermeiergitarre für die Interpretation klassischer und frühromantischer Gitarrenmusik. Mit ihrer schnellen Ansprache und ihrem charmanten Klang war sie das ideale Ausdrucksmittel für die Formensprache der Wiener Klassik. Musikwissenschaftler und Künstler entdeckten in der Gitarrenmusik des frühen 19. Jahrhunderts interpretatorisches Neuland, das es zu erkunden galt. Nach Segovias Tod kamen die ersten CDs mit klassischer Musik auf historischen Gitarren auf den Markt.
Im deutschen Sprachgebrauch hat sich für die Gitarre des frühen 19. Jahrhunderts der Begriff "Biedermeiergitarre" eingebürgert. Der Begriff ist insofern zutreffend, als die erste Blütezeit der klassischen Gitarre weitgehend mit der Epoche des Biedermeier (1815-1848) zusammenfällt. Er ist jedoch in dreierlei Hinsicht ungenau:
Angesichts der Ungenauigkeit des Begriffs stellt sich die Frage nach Alternativen: Im englischen Sprachraum ist der Begriff early romantic guitar gebräuchlich. Er ist in den letzten beiden Punkten präziser, vernachlässigt aber die klassischen Wurzeln der Gitarre. Treffender wäre die Bezeichnung "klassische Gitarre". Da mit "klassisch" aber meist nicht die Epoche der Klassik, sondern die gesamte Tradition der europäischen Kunstmusik gemeint ist, sollte man besser von "klassisch-frühromantischer Gitarre" sprechen, um den Epochenbezug zu betonen. Auch die Bezeichnung "Gitarre des frühen 19. Jahrhunderts" ist für das Instrument angemessen, wobei hier der Zeitraum auf die Zeit von 1800 bis etwa 1830 eingegrenzt wird.
Im Folgenden werden die Begriffe "Biedermeiergitarre", "klassisch-frühromantische Gitarre" und "Gitarre des frühen 19. Jahrhunderts" synonym für die sechssaitige Gitarre verwendet, die ihre typische Form und Besaitung um 1785 in Italien erhielt und ihre Blütezeit in der Epoche der Klassik und Frühromantik erlebte.
Thomas F. Heck nennt in seiner Dissertation The Birth of the Classic Guitar and its Cultivation in Vienna (1970) sechs charakteristische Merkmale der Gitarre des frühen 19. Jahrhunderts: 1. ein mit der Decke bündig abschließendes Griffbrett mit elf Bünden und drei bis sieben Deckenbünden, 2. sechs Einzelsaiten mit einer Mensur von 59-64 cm, 3. ein Steg mit Stegeinlage und Stegstiften, 4. eine Decke aus Fichte oder Kiefer sowie Zargen und Boden aus Ahorn, 5. ein flacher Boden, der entweder aus einem Stück Holz oder aus zwei zusammengefügten Hälften bestand und 6. eine Korpustiefe von 6 bis 9 cm. Als siebtes, äußerlich nicht sichtbares Merkmal kommt die von der Laute übernommene Deckenbeleistung hinzu (vgl. Bd. I, S. 47). Abweichend davon nennt Heck in seinem Aufsatz Stalking the oldest six-string guitar (1972) als sechstes Merkmal die in Form einer Acht gestaltete Kopfplatte. Die genannten Merkmale treffen vor allem auf die Gitarren aus der Zeit zwischen 1791 und 1819 zu. Auf konstruktive Veränderungen an Korpus, Griffbrett und Kopfplatte nach diesem Zeitraum geht Heck in seiner Dissertation kaum ein. Auch zählt er die Merkmale nur auf, ohne sie in eine logische Reihenfolge zu bringen.
Hier setzt Paul Sparks mit seinen Überlegungen an. Seiner Auffassung nach kann man die Entwicklung des Instruments nur verstehen, wenn man auch die Innovationen versteht, die zur gleichen Zeit in der Saitenherstellung stattfanden. Entscheidend für die Entwicklung von der fünfchörigen Barockgitarre zur klassischen sechssaitigen Gitarre war die Erfindung der metallumsponnenen Saiten mit Seidenkern, die gegen Ende des 17. Jahrhunderts als Basssaiten für Streichinstrumente verwendet wurden. Die neuen Saiten klangen klarer und kräftiger als die üblichen Darmsaiten und wurden im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts von den Gitarristen übernommen (vgl. Tyler/Sparks 2002, S. 209f.).
1. Die erste und wichtigste Veränderung, die zuerst in Frankreich und dann in Italien an der fünfchörigen Barockgitarre vorgenommen wurde, war die Ausstattung mit fünf Einzelsaiten, wobei für die D- und A-Saite metallumsponnene Saiten verwendet wurden. Für den Diskant wurden weiterhin Darmsaiten verwendet, die sich durch einen zarten, warmen Klang auszeichneten, aber als organisches Material empfindlich auf Luftfeuchtigkeit und Temperaturschwankungen reagierten. Die Basssaiten erhielten mehr Kraft und Brillanz, indem sie mit Metall umsponnen wurden, was die Klangfarbe des Instruments veränderte. Als zweite wichtige Veränderung fügten italienische Gitarrenbauer dem Instrument eine sechste E-Saite hinzu und erweiterten damit den Tonumfang.
Die Abkehr von der Doppelchörigkeit fiel nicht zufällig in eine Zeit des musikalischen Paradigmenwechsels. Das Prinzip der Polyphonie, des gleichberechtigten Nebeneinanders mehrerer Stimmen, war in der Frühklassik durch das Prinzip der Homophonie, der Dominanz der Melodiestimme gegenüber den Begleitstimmen, abgelöst worden. Dem trug die Sechssaitigkeit der Gitarre Rechnung. Auf den Einzelsaiten des neuen Instruments konnte die Melodieführung wesentlich ausdrucksvoller gestaltet werden als auf den Saitenchören der Barockgitarre. Die sechste Saite eröffnete zudem neue harmonische Möglichkeiten für die Begleitung.
Für die Mensur, die frei schwingende Länge der Saiten vom Steg bis zum Sattel, gab es keine verbindliche Norm. Sie konnte zwischen 59 und 64 cm liegen. Ihre Länge hing vom Konzept des Gitarrenbauers und den Wünschen des Kunden ab. Einen Sonderfall stellt das Legnani-Modell von Johann Georg Stauffer mit einer Mensur von 55,8 cm dar (vgl. Heck 1970 I, S. 52). Im Durchschnitt betrug die Mensur etwa 63 cm. Sie war damit deutlich kleiner als die der Barockgitarre mit etwa 63 bis 70 cm. Im Gegensatz zu ihrer Vorgängerin konnte die klassische Gitarre problemlos auf Orchestertonhöhe gestimmt werden (vgl. Tyler/Sparks 2002, S. 256).
2. Da die metallumsponnenen Basssaiten die empfindlichen Darmbünde der Barockgitarre beschädigen konnten, ersetzten die Gitarrenbauer die beweglichen Bünde durch in den Hals eingelassene Bundstäbe1. Die Bundstäbe bestanden zunächst aus Knochen, Ebenholz oder Elfenbein, später aus Messing oder Silber und schließlich aus Neusilber. Am weitesten verbreitet waren Bundstäbe aus Silber oder Messing, die von Gitarristen wie Molitor oder Molino bevorzugt wurden2.
Das Griffbrett war meist aus Ebenholz und mit dem Hals verleimt. Es befand sich zunächst auf gleicher Höhe mit der Decke und endete oft schon am elften Bund. Das Deckenholz konnte wie bei der Barockgitarre in den Hals hineinragen. Die Bünde auf dem Griffbrett wurden durch drei bis sieben Bünde auf der Decke ergänzt. Dadurch vergrößerte sich der Tonumfang der Gitarre, allerdings mehr in der Theorie als in der Praxis. Die hohen Bünde waren schwer zu erreichen und wurden in der Praxis kaum genutzt. In Doisys Vollständige[r] Anweisung für die Guitarre (1802) heißt es: "Man gehet auf der Guitarre niemals vom Griffblatte ab, wie auf der Violine, und dem Violoncell; denn sobald man über dem zwölften Griff die Saiten berühret, so erhält man nur unvollkommene Töne" (S. 48). Bald wurde das Griffbrett verlängert und in die Decke integriert. Die Proportionen wurden so verändert, dass sich der zwölfte Bund am Übergang vom Hals zur Decke befand3.
In den 1810er Jahren ging man dazu über, das Griffbrett um einige Millimeter anzuheben und mit Hals und Decke zu verleimen. Diese Bauweise setzte sich jedoch erst in den 1820er Jahren allmählich durch. Das Standardgriffbrett hatte 17 oder 19 Bünde. Eine besondere Neuerung stellte das von Johann Georg Stauffer entwickelte Legnani-Modell dar. Hier lag das Griffbrett über der Decke und ragte über das Schallloch hinaus. Durch diese geniale Konstruktion konnten 22 Bünde auf dem Griffbrett untergebracht werden. Da nur die Diskantsaiten auf den höchsten Bünden gegriffen wurden, konnte sich das Griffbrett zum Ende hin verjüngen, so dass es das Schallloch kaum verdeckte. Die innovative Gitarre besaß außerdem einen verstellbaren Hals, der es dem Spieler ermöglichte, die Saitenlage seinen Bedürfnissen anzupassen.
3. Die neuen Saiten wurden zunächst traditionell am Knüpfsteg verknotet. Um 1800 begannen die Gitarrenbauer, den Knüpfsteg durch den Knopfsteg zu ersetzen. Dabei wurden die Saiten durch kleine Öffnungen in Steg und Decke geführt und mit Knöpfen oder Stiften festgeklemmt. Die Saiten erhielten einen sichereren Halt und eine stärkere Spannung war möglich. Steg und Stegstifte waren meist aus Ebenholz. Auf den Stiften befanden sich Zierpunkte aus Elfenbein oder Perlmutt. Eine Ausnahme bildeten die spanischen Gitarren und die Gitarren der Turiner Schule, bei denen die Saiten am Steg verknotet waren. Um 1815 wurden die ersten Stege mit einer Stegeinlage versehen. Die Einlage diente dazu, die Saiten in einem bestimmten Abstand zum Griffbrett zu halten. War die Saitenlage zu niedrig, konnten die schwingenden Saiten die Bundstäbchen berühren und schnarren. War sie zu hoch, erschwerte sie das Spiel. Als Material für den Steg wurde Knochen, Elfenbein, Ebenholz oder Messing verwendet.
Im Klassizismus wurde die Decke an den Stegenden mit floralen Motiven aus Ebenholz oder schwarz gebeiztem Holz verziert, mit schlichten Volutenranken oder mit üppigem Blatt- und Rankenwerk. Das Blatt- und Rankenwerk diente keineswegs nur der Zierde, sondern auch der Stabilisierung der Decke, allerdings auf Kosten der Resonanzfähigkeit. In der Frühromantik wurden diese Rankenelemente, die sich an der antiken Ornamentik orientierten, entfernt. Geblieben sind die Rankenansätze, die nach oben oder unten gebogen sein konnten und einem Schnurrbart ähnelten. Daher werden diese Stege Moustache-Stege genannt. Die Rankenansätze konnten aber auch gerade sein und eine einfache geometrische Form bilden.
4. Die höhere Saitenspannung zwang die Gitarrenbauer, die Deckenkonstruktion zu überarbeiten. Auf der Unterseite der Decke wurden zusätzliche Holzleisten aufgeleimt, um die Decke zu stabilisieren und darüber hinaus den Klang zu optimieren. Es bildeten sich drei Beleistungssysteme heraus: die Fächerbeleistung (Pagés, Martinez, Panormo), die symmetrische Leiterbeleistung (Fabricatore, Stauffer) und die asymmetrische Leiterbeleistung (Pons, Lacôte). Anhand der Deckenbeleistung konnte man die Zugehörigkeit eines Gitarrenbauers zu einer der drei maßgeblichen Gitarrenbauschulen erkennen. Das Beleistungssystem hatte einen großen Einfluss auf den Klang: Die spanischen Gitarren hatten eine langsame Ansprache. Sie waren eher leise, besaßen aber einen warmen Bass mit singenden Höhen. Die Instrumente der Wiener Gitarrenbauschule hatten eine schnelle Ansprache und zeichneten sich durch einen kräftigen, kernigen, aber auch etwas trockenen Klang aus. Die französischen Gitarren hatten ebenfalls eine schnelle Ansprache. Ihr Klang war jedoch eher hell und obertonreich.
5. Bei der Gestaltung des Gitarrenkorpus lassen sich ebenfalls Unterschiede feststellen, die auf die drei maßgeblichen Gitarrenbauschulen zurückgeführt werden können. Italienische und österreichische Gitarren hatten eine enge Taille und teilweise einen großen Oberbug, so dass der Korpus die Form einer Acht hatte. Bei den französischen Gitarren des späten 18. Jahrhunderts verjüngte sich der Korpus in der Taille nur wenig und war eher langgezogen wie bei einer Barockgitarre. Später wurde der Korpus dem italienischen Vorbild angepasst. Spanische Gitarren hatten eine schmale, langgezogene Taille und einen Ober- und Unterbug mit weniger runden Formen als italienische Gitarren. Diese Form wurde beibehalten, zumal sich der Gitarrenbau in Spanien relativ unabhängig von den Trends in Italien und Frankreich entwickelte.
Die Gitarren hatten eine Korpustiefe von sechs bis neun Zentimetern und einen deutlich kleineren Korpus als die heutige Konzertgitarre. Durch ihre schmale Form boten sie den Basssaiten relativ wenig Resonanzraum. Dafür konnte die Gitarre beim Spielen auf dem rechten Oberschenkel abgestützt und aufrecht vor dem Körper gehalten werden. Der Boden war meist flach, bei einigen Modellen aber auch leicht gewölbt. Er bestand in der Regel aus zwei symmetrischen Hälften, konnte aber auch aus einem Stück Holz gefertigt sein.
Da die meisten Gitarrenbauer im Hauptberuf Geigenbauer waren, wurden für die Gitarren die gleichen Klanghölzer verwendet wie für die Geigen. Die Decke war meist aus Fichte, Boden und Zargen aus Ahorn, Griffbrett, Wirbel und Steg aus Ebenholz. Bei der Wahl der Boden- und Zargenhölzer waren die spanischen Gitarrenbauer jedoch sehr flexibel. Pagés verwendete schon früh Palisander als Furnierholz. In den 1820er Jahren begannen Pons und Lacôte in Frankreich, Gitarrenböden aus Fichte mit Edelhölzern zu furnieren, und auch Panormo in England baute Gitarren mit furnierten Böden, vorzugsweise aus Riopalisander. Der Gitarrenhals konnte im Gegensatz zum Geigenhals aus verschiedenen Hölzern bestehen. Ahorn, Buche, Esche, Cedro oder Mahagoni waren hier die Materialien der Wahl. Die exotischen Hölzer aus Süd- und Mittelamerika wurden vor allem im spanischen und englischen Gitarrenbau verwendet. Die Hälse französischer und vor allem italienischer Gitarren wurden bis in die 1830er Jahre und darüber hinaus schwarz lackiert. Als Leim wurde im Gitarrenbau Tierhautleim verwendet, als Lack häufig Schellack.
6. Das wohl auffälligste Merkmal der klassisch-frühromantischen Gitarre ist ihre Kopfplatte. Sie hat die Form einer Acht und sechs hinterständige Wirbel. Bereits die ältesten sechssaitigen Gitarren aus Neapel wiesen diese Form auf. Sie wurde um 1800 von fast allen europäischen Gitarrenbauern kopiert und dominierte das Gitarrendesign bis Ende der 1820er Jahre.
Der Kopf war gegenüber dem Hals leicht nach hinten geneigt, so dass die Saiten mit Druck über den Sattel gespannt wurden. Wie bei der Barockgitarre wurden Reibungswirbel aus Ebenholz verwendet, die von hinten durch Löcher in der Kopfplatte gesteckt wurden. An den Wirbeln wurden die Saiten befestigt und aufgewickelt. Beim Stimmen wurde ein Wirbel leicht aus dem Wirbelloch herausgezogen, vorsichtig gedreht und gleichzeitig wieder hineingeschoben. Durch die Reibung wurde der Wirbel festgehalten. Bei falscher Handhabung konnte er jedoch schnell herausrutschen4. Außerdem waren die Holzwirbel witterungsempfindlich, wie Simon Molitor in seinem Vorwort zur Große[n] Sonate für die Guitare allein (1806) beklagte: "Durch die Einführung der kleinen Zäpfchen, womit auf den neueren Guitaren die Saiten oben am Saitenfest befestigt werden, scheint mir das Instrument ... nichts gewonnen zu haben, indem ein solches Zäpfchen bei trockener Witterung leicht herausfallen kann, bei feuchter Witterung aber, wenn die Saite quillt, oft gar nicht herauszubringen ist" (S. 11 Anm.).
Joseph Pons in Paris entwickelte daher einige Jahre später Wirbel mit einem Metallgewinde. Diese so genannten Schmetterlingswirbel konnten einfach und bequem mit einer Flügelmutter befestigt werden. Sein Schüler René Lacôte übernahm das Konzept um 1820, und auch der Gitarrist Charles de Marescot stellte in seiner Methode de Guitare (1825) einen Wirbelmechanismus aus Metall vor, der aus einem "Schlüssel" (clef) und einer "Mutter" (écrou) bestand (Bd. I, S. 17 übers.). Neben den sechs Wirbellöchern befand sich meist noch ein kleines Loch am oberen Ende der Kopfplatte. Dieses diente zur Befestigung eines Tragebandes. Das andere Ende des Bandes wurde am Endknopf in der Zarge befestigt, der meist aus Ebenholz oder Knochen bestand.
Auch wenn die beschriebene Kopfplatte typisch für die zwischen 1800 und 1830 gebauten Gitarren ist, darf nicht vergessen werden, dass es in dieser Zeit und danach auch andere Kopfformen gab. Die französischen Gitarren des späten 18. Jahrhunderts und die spanischen Gitarren hatten eher rechteckige, trapezförmige Kopfplatten. Einige deutsche Gitarrenbauer wie Knößing, Bindernagel oder Weber ersetzten die Kopfplatte durch einen Wirbelkasten mit seitenständigen Wirbeln. Um 1820 erfand Johann Georg Stauffer eine verdeckte Mechanik aus Metall, die auf der Rückseite der Kopfplatte befestigt wurde. Das Schneckengetriebe der Mechanik war in der Kopfplatte verborgen, nur die sechs Stimmflügel ragten seitlich aus der Kopfplatte heraus. Die Kopfplatte war asymmetrisch geformt und entsprach in ihrer Form einem zweidimensionalen Abbild des Wirbelkastens einer Geige. Etwa zur gleichen Zeit entwickelten Pons, Lacôte und Panormo eine durchbrochene Kopfplatte mit Stimmmechanik und hinterständigen Flügeln. In den 1830er Jahren verdrängten die neuen Stimmmechaniken nach und nach die traditionellen Holzwirbel.
7. Ein weiteres Merkmal der klassisch-frühromantischen Gitarre ist ihre funktionale Bauweise. Die sechssaitige Gitarre entstand in der Zeit der Französischen Revolution, in der sich das Bürgertum vom Adel emanzipierte. Sie war also nicht nur ein höfisches Instrument wie die doppelchörige Barockgitarre, sondern auch ein Instrument des Bürgertums. Man verzichtete auf prunkvolle Rosetten und aufwendige Intarsien aus Elfenbein, Ebenholz, Schildpatt oder Perlmutt, die den Klang beeinträchtigten. Die Gitarre sollte in erster Linie gut klingen und kein ästhetisches Schaustück sein.
Als Unterscheidungsmerkmal zur Barockgitarre taugt dieses Merkmal allerdings nur bedingt. Zum einen wurden im 17. und 18. Jahrhundert nicht nur Luxusgitarren für die Höfe gebaut, sondern auch einfache Instrumente für Berufsmusiker. Man denke nur an die um 1700 von Stradivari gebauten Gitarren. Zum anderen gab es zu Beginn des 19. Jahrhunderts auch reich verzierte Gitarren, die den Vergleich mit Barockgitarren nicht zu scheuen brauchten.
Zu den schönsten Gitarren dieser Epoche gehören zwei Gitarren der Kaiserin Marie-Louise von Österreich. Eine der beiden Gitarren wurde 1810 anlässlich ihrer Hochzeit mit Napoleon I. von Johann Georg Stauffer in Wien angefertigt. Sie hat eine Mensur von 65 cm und eine Korpuslänge von 46,1 cm und war damit größer als die meisten Herrenmodelle (vgl. Hofmann 2017, S. 3). Die andere hat die schlanke Form einer Damengitarre. Sie wurde 1812 von Joseph Pons in Paris gebaut und 1815 dem kaiserlichen Kammervirtuosen Mauro Giuliani in Wien geschenkt (vgl. Pleijsier 1999, S. 21). Beide Gitarren wurden aus exquisiten Materialien und mit großer handwerklicher Kunstfertigkeit hergestellt. Dennoch waren diese Luxusgitarren keine reinen Prunkstücke, sondern klangschöne und gut spielbare Instrumente.
Das Empire von 1799 bis 1815 war eine Zeit des Übergangs. Die sechssaitige Gitarre wurde zum Modeinstrument des Adels und des wohlhabenden Bürgertums, aber auch des einfachen Volkes. Mit dem Ende des Empire verlor die Gitarre ihren Status als Modeinstrument des Adels und wurde zu einem Instrument der bürgerlichen Gesellschaft. Die Nachfrage nach Gitarren stieg. Im sächsischen Markneukirchen und im lothringischen Mirecourt entstand eine regelrechte Gitarrenindustrie, die halb Europa mit erschwinglichen Instrumenten versorgte. Dazu passte, dass man im Biedermeier schlichte Eleganz bevorzugte, was das Aussehen der Gitarre betraf. Im Gitarrenbau verzichtete man weitgehend auf auffällige Verzierungen. Stattdessen standen das Holz und seine Maserung im Vordergrund. Häufig wurden für Boden und Zargen ausgesucht gemaserte Hölzer verwendet und mit Randeinlagen aus Holz dezente farbliche Akzente gesetzt. August Harder nannte in seiner Gitarrenschule drei Kriterien, die beim Kauf einer Gitarre ausschlaggebend sein sollten: die Schönheit des Tones, die Richtigkeit der Mensur und die Leichtigkeit der Behandlung. Verzierungen sollten als Kaufkriterium keine Rolle spielen: ".... so trifft man doch häufig, selbst bei schön und reichverzierten Guitarren, einen unangenehmen, dumpfen oder rauhen Ton an, und im Gegentheil findet man zuweilen den angenehmsten, schönsten Ton mit einer ganz einfachen, ungeschmückten Bauart vereinigt" (1819, S. 11). Dennoch wurden exklusive Gitarren für wohlhabende Kunden weiterhin mit Perlmutteinlagen verziert.
1 In Frankreich wurden noch um 1800 bewegliche Darmbünde verwendet. So schreibt François Doisy in seinen Principes Généraux de la Guitare (1801): "Normalerweise sind zwölf BUNDSTÄBE von oben nach unten am Hals angebracht; zehn davon sind aus Silber, Messing oder Elfenbein, häufiger jedoch aus Darmsaiten“ (S. 9 übers.). Die deutsche Übersetzung der Gitarrenschule passte den Text an die deutschen Verhältnisse an und ließ die Darmbünde weg: "Gewöhnlich ist der Hals von oben herab durch zwölf Querleistchen von Silber- oder Messingdrath, meistentheils aber von Elfenbein abgetheilt" (1802, S. 2).
2 Simon Molitor bevorzugte aus klanglichen Gründen Darmbünde, musste aber einräumen, dass Silber- oder Messingbünde praktischer seien: "Die Bünde von Saiten sind in Hinsicht auf Ton die besten, und wären vorzüglich zu empfehlen, wenn sie nicht das nachtheilige hätten, dass sie der linken Hand im Auf- und Abgehen hinderlich wären. Jene von Silber oder Messing sind übrigens besser als jene von Elfenbein" (1806, S. 11 Anm.). Francesco Molino zog Darmbünde gar nicht mehr in Betracht: "Die ersten 10 können von Silber oder Messing, die 5 letztern aber müssen von Ebenholz oder Elfenbein seyn“ (1813, S. 7).
3 Mit dem Auftreten der ersten Gitarrenvirtuosen etablierte sich das Spiel in den hohen Lagen. Der Gitarrenbau hielt mit dieser Entwicklung nicht ganz Schritt. Carl Blum sah sich in seiner Neue[n] vollständige[n] Guitarren-Schule (1818) veranlasst, die Gitarrenbauer aufzufordern, ihre Instrumente dem künstlerischen Gitarrenspiel anzupassen: "Diese Cultivirung der hohen Töne, in Hinsicht auf künstlerische Ausführung beim Spiel, ist es nun, die eine eigne Bauart der Guitarre erfordert. Es ist durchaus nothwendig dass der zwölfte Bund auf der Guitarre noch auf dem Halse, aber nicht wie bei vielen Instrumenten auf dem Resonanzboden der Guitarre sich befindet" (Bd. I, S. 6).
4 Über die Tücken des Stimmens berichtete Charles de Marescot: "Wenn der Ton nur ein wenig höher ist, ist es besser, die Saite etwas stärker zu ziehen, als den Wirbel abzurollen. Diese Methode wird immer bei neuen Saiten angewandt, die zu diesem Zweck höher aufgezogen werden. Da gewöhnliche Wirbel, wie alle Holzarbeiten, von der Temperatur beeinflusst werden, quellen sie bei Feuchtigkeit auf und sind dann schwer zu drehen, besonders für Leute mit schwachen Händen; oder sie drehen sich so ruckartig, dass man viele Versuche braucht, um den gewünschten Punkt zu finden. Bei Trockenheit dagegen sind die Wirbel so eng, dass sie sich bei der geringsten Berührung abrollen, manchmal sogar ohne dass man sie berührt" (1825 I, S. 17 übers.).
V: 04.12.2021
LA: 01.07.2024
Autor: Dirk Spönemann