Der Anschlag

1 Der Kuppenanschlag

Die zu Beginn des 19. Jahrhunderts praktizierte Stützfingertechnik hatte unmittelbare Auswirkungen auf die Anschlagtechnik. Durch das Auflegen des kleinen Fingers auf die Decke wurde die Anschlaghand leicht nach rechts gedreht und die Finger eher parallel als rechtwinklig zu den Saiten gehalten. Dadurch vergrößerte sich die Kontaktfläche der Anschlagfinger zu den leicht rauen Darmsaiten. Die Saiten wurden mit den Fingerkuppen eher angezupft als kräftig angeschlagen, was zu einem zarten, ausgewogenen und nuancenreichen Klang führte. Diese feinfühlige, auf Klangqualität bedachte Anschlagstechnik entstammte noch der alten Gitarren- und Lautentechnik für Instrumente mit Doppelsaiten. Hier wurden die Saiten eher gestreift und so parallel zur Decke in Schwingung versetzt. Begünstigt wurde diese Spielweise durch die damals übliche Haltung der Gitarre: Der Korpus ruhte erhöht auf dem rechten Oberschenkel. Der Gitarrenkopf wurde etwa in Augenhöhe gehalten, die Decke leicht nach unten geneigt. Die diagonale Ausrichtung des Instruments betrug etwa 60 Grad und die Gitarre wurde in einem Winkel von etwa 45 Grad zum Oberkörper gehalten.

Heinrich Christian Bergmann beschrieb in seiner Kurze[n] Anweisung zum Guitarrspielen (1802) die Anschlagtechnik: "Um einen unreinen Ton zu vermeiden, hüte man sich auf den Saiten blos mit den Nägeln zu spielen. Steckt man im Gegentheil die Finger zu tief zwischen die Saiten, so wird dadurch die Spielart nicht nur allein zu schwer, sondern auch bey geschwinder Abwechselung der Töne und Saiten würden sogar an einem regelmäßigen Anschlage die Finger selbst gehindert werden. Die beste Spielart ... ist ohnstreitig die: daß man die Saiten, so leicht wie möglich, nur mit den Fingerspitzen berührt" (Bergmann 1802, S. 25). Johann Jakob Staehlin ergänzte in seiner Anleitung zum Guitarrespiel (1810), dass der Anschlag von der Seite her erfolgen müsse: "Der Anschlag der Saiten muss blos durch die äusserste Fingerspitze, und zwar nicht von unten herauf, sondern von der Seite geschehen. Bringt man die Finger zu tief zwischen die Saiten, so wird das Spiel ermüdend" (Staehlin 1811, S. 6). Die beschriebene Anschlagtechnik war während der gesamten Epoche der Klassik und Frühromantik gebräuchlich (vgl. Scheidler 1803, S. 6; N. N. 1806, S. 3; Bornhardt 1815, S. 4; Gräffer 1811, S. 9; J. M. G. y E. 1819, S. 4; Harder 1819, S. 41; Kníže 1820, S. 13; Lehmann 1820, S. 9; Nüske 1832, S. 1; Reichardt 1839, S. 4).

Die Frage, ob die Saiten mit den Fingerkuppen oder den Fingernägeln angeschlagen werden sollten, wurde zu Beginn des 19. Jahrhunderts zugunsten des Kuppenanschlags entschieden. Simon Molitor hob im Vorwort zu seiner „Großen Sonate für Guitarre allein“ (1806) die klanglichen Vorzüge des Kuppenanschlags hervor. Nur "mit dem fleischigen Theile der Fingerspitzen", so Molitor, könne man "einen sanften vollkommen runden Ton" erzeugen, der dem Klang "der Harfe am ähnlichsten" sei. Dagegen erzeuge das "Abschnellen der Töne mit den Nägeln" einen unangenehmen "klirrenden" Ton (Molitor 1806, S. 22; vgl. Bortolazzi 1831, S. 6; Bigot 1824, S. 3).

C. J. Pratten: Learning the Guitar simplified. 1891. No. 1.
C. J. Pratten: Learning the Guitar simplified. 1891. No. 1.

Das von Molitor beschriebene Ideal eines warmen, weichen Gitarrenklangs wich spätestens in den 1820er Jahren dem Ideal eines runden, konturierten und kräftigen Tons. Offensichtlich spiegelte sich in diesem veränderten Klangideal die Erkenntnis wider, dass die Gitarre nur dann eine Chance hatte, sich als konzertierendes Soloinstrument zu etablieren, wenn ihr Klang vom Publikum deutlich wahrgenommen wurde. Einer der ersten, der sich für einen vollen, kräftigen Gitarrenton aussprach, war Carl Blum. Er schlug vor, die gegriffenen Basstöne mit dem Daumennagel anzuschlagen, damit sie nicht so dumpf und undeutlich klangen: "Was den Ton der Guitarre betrifft so ist es des Ausübenden Pflicht ihn so angenehm rund und stark aus dem Instrument herauszuziehen als nur möglich. Folgendes kann als Regel dienen. 1) Die rechte Hand liege nie ganz fest auf dem Resonanzboden sondern stehe etwas hohl. 2) Indem man der [sic] Finger der rechten Hand gelinde bugt [sic], berühre man die Saiten mit den Spitzen die [sic] Finger, nicht aber mit den Nägeln. 3) Dagegen lasse man den Nagel des Daumens an der rechten Hand sich etwas lang wachsen, beschneide ihn eckig ohne das aber eine Rauhigkeit sichtbar wird. Die Bassnoten insofern sie leere Saiten (Cordes à vides) betreffen, schlage man mit dem Fleisch der Daumenspitze an. Insofern hingegen die Bassnoten keine leeren Saiten berühren, sondern gegriffen werden müssen schlage man diese Töne mit dem Nagel des Daumens an. Besonders in der Applicatur werden die Töne im Basse dumpf und sogar undeutlich, der Nagel thut hier eine herrliche Wirkung, indem er dem Tone mehr Schärfe und Ausdruck giebt" (Blum 1818, S. 9f.). 

Andere Gitarristen versuchten, mit der konventionellen Anschlagtechnik einen vollen und kräftigen Ton zu erzeugen. Francesco Bathioli etwa empfahl, die Finger "etwas tief zwischen die Saiten" zu legen, "damit bloß der weiche, fleischige Theil der Fingerspitzen dieselben ausschnelle, und zugleich ... einen runden, vollen und gediegenen Ton hervorbringe" (Bathioli 1825 Theil I/1, S. 27), und Matteo Carcassi riet dazu, die Saiten mit den Fingerkuppen kräftig "jedoch ohne Steifheit" und "etwas weniges von der Seite (schräg)" anzuschlagen, um "einen vollen markigten Ton" zu erzeugen (Carcassi 1836, S. 10; vgl. Aubery du Boulley 1842, S. 5).

C. J. Pratten: Learning the Guitar simplified. 1891. No. 2.
C. J. Pratten: Learning the Guitar simplified. 1891. No. 2.

In den 1820er Jahren kamen neben der klassischen Haltung zwei weitere Gitarrenhaltungen auf, bei denen die Oberschenkel als Auflagefläche für die Zargeneinbuchtung der Gitarre dienten. Bei diesen Haltungen wurde die Gitarre tiefer platziert. Der Gitarrenkopf befand sich etwa in Schulterhöhe, die Decke war eher zum Oberkörper hin geneigt und die diagonale Ausrichtung des Instruments betrug etwa 25 bis 45 Grad. Für die Stützfingertechnik waren die beiden modernen Gitarrenhaltungen weniger vorteilhaft. Entsprechend wurde die Anschlagtechnik angepasst. Der Kuppenanschlag sah dann so aus, wie ihn Catharina Josepha Pratten in einer ihrer Gitarrenschulen illustrierte: Die Anschlagfinger waren leicht gebogen und nur die Mittel- und Endgelenke wurden bewegt (siehe Abb. 1 und 2). Alternativ wurde auf die Stützfingertechnik ganz verzichtet.

2 Der Nagelanschlag

Anfang des 19. Jahrhunderts finden sich Vertreter des Nagelschlags ausschließlich in Portugal und Spanien. So empfahl der Portugiese Antonio Abreu, die Saiten mit den Nägeln anzuschlagen: "Die alten Meister der Gitarre sagen, dass man der Gitarre einen reinen, sonoren und klaren Ton entlocken muss, ohne die Saiten zu zerkratzen, was voraussetzt, dass man sie mit Nägeln spielt" (Abreu 1799, S. 41 übers.). Die Nägel durften nach Abreu weder zu lang noch zu kurz sein. Außerdem sollten sie eher rund als spitz sein. Auch der Spanier Fernando Ferandiere sprach sich für den Nagelanschlag aus. Allerdings sollten die Nägel seiner Meinung nach nur so lang sein, dass sie die Saiten gerade noch treffen (Ferandiere 1799, S. 6). Der Italiener Federico Moretti, der in der spanischen Armee diente, empfahl dagegen die Verwendung von Nägeln nur andeutungsweise: "Die rechte Hand sollte fast waagerecht zu den Saiten gehalten werden, damit die Finger leichter zupfen können und die Fingernägel nicht im Wege sind, sonst ist es unmöglich, sanft und harmonisch zu zupfen" (Moretti 1799, S. 2 übers.).

D. Aguado: Apéndice al Nuevo Método para Guitarra. 1849. Figur 2.
D. Aguado: Apéndice al Nuevo Método para Guitarra. 1849. Figur 2.

Da das Nagelspiel zunächst nur auf der iberischen Halbinsel gepflegt wurde, ist es nicht verwunderlich, dass der erste Gitarrist, der versuchte, das Nagelspiel in Paris zu etablieren, ein Spanier war: Dionisio Aguado. Aguado empfahl, die Saiten mit den Fingerkuppen anzuschlagen und sie dann über die Fingernägel gleiten zu lassen. Die Nägel sollten weder zu weich noch zu hart, weder zu lang noch zu kurz sein (vgl. 1820, S. 4; 1825, § 21; 1826, § 21). Später meinte er, die Nägel sollten "oval" sein und nur wenig über die Fingerspitzen hinausragen (1843, § 37).

Da Aguado auf die Stützfingertechnik verzichtete, konnte er die Anschlaghand leicht nach links drehen, die Finger beim Anschlag gestreckt halten und die Saiten mit der linken Seite der Fingerkuppe - dort, wo der Abstand zwischen Nagelkante und Fingerspitze am geringsten war - anschlagen, so dass die Saiten unmittelbar nach dem Anschlag über die Nägel glitten: "Die Richtung, die den Fingern gegeben wird, ist etwas gewaltsam, weil sie in Richtung des Schalllochs geht; aber ich halte sie für unerlässlich. So platziert, wird der Handrücken, der in Richtung des kleinen Fingers fällt, ständig angehoben, so dass sich Zeige- und Mittelfinger leicht zu den Saiten hin drehen können, um sie mit der Innenseite der Fingerkuppe anzuschlagen" (Aguado 1849, S. 9f. übers.).

Während beim Kuppenanschlag die Finger leicht gebeugt und die Mittel- und Endgelenke bewegt wurden, wurden beim Nagelanschlag nur die Grundgelenke bewegt. Lediglich der Daumen bewegte weiterhin das Endgelenk: "Der Daumen darf beim Anschlagen der Saite an ihr nicht mit der Wölbung seiner Kuppe rütteln, sondern muss sie mit der Spitze ergreifen, nachdem er sein letztes Glied bereits gebeugt hat, so dass sich beim Loslassen nur dieses Glied bewegt" (Aguado 1849, S. 10 übers.). Aguado war davon überzeugt, dass nur mit Hilfe des Nagelanschlags die "sehr zarten" Effekte erzeugt werden können, die der Gitarre eigen sind. Er beschrieb den mit Fingernägeln erzeugten Klang als "rein, metallisch und süß" (Aguado 1843, § 37 übers.). In Adolphe Ledhuy fand Aguado einen begeisterten Anhänger des Nagelanschlags. Dieser wiederholte Aguados Anweisungen in seiner Gitarrenschule fast wörtlich: „Um mit den Fingernägeln zu zupfen, ist es notwendig, dass 1. die Nägel nicht zu lang sind, da sie sonst nicht genügend Kraft haben, 2. die Saiten mit der dem Daumen zugewandten Seite des Nagels etwas schräg gezupft werden, 3. dass die Saite von der Fingerkuppe gestreift wird, bevor sie mit dem Nagel angeschlagen wird“ (Ledhuy 1828, S. 1 übers.).

Auch der Spanier José Maria Ciebra bevorzugte den Nagelanschlag. Der russische Gitarrist Nikolai Petrowitsch Makarow erinnerte sich in seinen Memoiren, wie er Ciebras Anschlagstechnik 1856 beim Brüsseler Gitarrenwettbewerb kennenlernte: "Wie bei fast allen spanischen Gitarristen üblich, hatte er sehr lange Fingernägel an der rechten Hand, die er beim Spielen schräg hielt, nicht senkrecht, wie es die Gitarristen normalerweise tun. Außerdem schlug er die Saite mit dem Nagel nicht wirklich an, sondern drückte ihn einfach auf die Saite, wobei er von der Saite auf den Gitarrenhals abrutschte. Auf diese Weise gelang es ihm, dem Instrument bemerkenswert zarte, tiefe und melodische Töne zu entlocken, wie ich sie noch nie zuvor von jemandem gehört hatte" (Bobri, Makaroff’s Memoires übers.).

Darüber hinaus gab es im frühen 19. Jahrhundert erste Versuche, die Saiten mit Fingerpicks anzuschlagen. So berichtete die "Allgemeine Musikalische Zeitung" am 10. Januar 1827 über ein Konzert, das am 26. November 1826 im Lokal des Wiener Musikvereins stattfand: "Fünftes Abonnement-­Quartett des Hrn. Schuppanzigh. Alles gut und löblich; aber der Beschluss, die Guitarre-Variationen, worin sich ein Hr. Beilner mit einer ganz besondern Spielart - nämlich, die Finger durch Bleche verlängert - zu produciren wagte, trieb alle Zuhörer von dannen“ (AMZ 29/1827, Sp. 16).

3 Fernando Sors Anschlagtechnik

F. Sor: Méthode pour la Guitare. 1830. Figur 18.
F. Sor: Méthode pour la Guitare. 1830. Figur 18.

Fernando Sor war ganz anderer Meinung als Aguado (Sor 1831, S. 17). Er war davon überzeugt, dass man mit dem Kuppenanschlag die Pianopassagen viel kantabler gestalten könne als mit dem Nagelanschlag. Er glaubte auch, dass man mit den Kuppen den Ton besser formen könne als mit den Nägeln, und dass dem Gitarristen, der mit den Kuppen spielte, eine größere Palette von Klangschattierungen zur Verfügung stand.

Sor war aber auch gegenüber dem zeitgenössischen Kuppenspiel reserviert. Er kritisierte vor allem die gebeugte Haltung der Finger beim traditionellen Kuppenanschlag. Seine Anschlagtechnik basierte auf dem "Grundsatz", "die Finger so wenig als möglich zu biegen". Dies hatte zur Folge, dass Sor auf die Verwendung des kleinen Fingers als Stützfinger und des Ringfingers als Anschlagfinger verzichtete. Er schlug die Saiten mit Daumen, Zeige- und Mittelfinger parallel zur Saitenebene an: "Nehmen wir A als die Dicke der Saite an (fig: 18) so giebt ihr der Zeigefinger beim Anschlagen die Richtung gegen B: die Gegenwirkung muss gegen C gehen, und da die Wechselwirkung einmal im Gange ist, so muss die Richtung der Schwingungen mit der Fläche des Resonanzbodens sowohl an der des Halses parallel laufen und die Gleichheit der Entfernung wird immer beibehalten bleiben. Die Rundung der Fingerspitze, welche sich Platz zu machen strebt, und die Saite, die sich ihr entgegen stellt, ihrer Berührung zu weichen zwingt, wird sie zwar durch den Bogen D E nöthigen zugleich die Richtung gegen F zu nehmen, welche die Gegenwirkung F G hervorbringt, aber der Raum, in welchem diese Schwingungen statt haben werden, ist viel kleiner und da die erste keinem Widerstand begegnet, so wird der Ton rein seyn und sich so lange fortsetzen, als die Güte der Saite und des Instruments es erlaubt" (ebd. S. 13f.).

F. Sor: Méthode pour la Guitare. 1830. Figur 19.
F. Sor: Méthode pour la Guitare. 1830. Figur 19.

Um verschiedene Klangfarben zu erzeugen, benutzte Sor nicht nur, wie üblich, die Register der Gitarre, sondern auch verschiedene Bereiche der Fingerkuppen. Normalerweise schlug er die Saiten auf dem zehnten Teil ihrer Gesamtlänge an, um "einen hellen, hinlänglich nachklingenden und doch nicht zu gewaltsamen Ton" zu erhalten: "... soll aber der Ton voller und getragener seyn, so berühre ich sie auf dem achten Theil der Länge, indem ich den Bogen  AB, welcher den innern Theil des äussersten Gliedes bildet (fig: 19) benutze, damit der Ton die Wirkung einer Reibung, nicht eines Kneifens sei" (Sor 1831, S. 14).

Sor führte den Kuppenanschlag in einer Weise aus, die eigentlich für den Nagelanschlag typisch war. Er hielt den rechten Handrücken leicht gewölbt und nach links geneigt mit deutlichem Abstand über der Decke, so dass die Finger beim Anschlag gestreckt bleiben und die Saiten parallel zur Saitenebene anschlagen konnten. Die Synthese von Kuppen- und Nagelanschlag wurde möglich, weil Sor bei der Entwicklung seiner Anschlagtechnik wissenschaftliche Erkenntnisse aus Physik und Anatomie nutzte. Seinen wissenschaftlich interessierten Freund Aguado konnte er schließlich mit seinen Argumenten überzeugen. Aguado erklärte sich auf Sors Rat hin bereit, seinen Daumennagel abzuschneiden, um auf den Basssaiten "energische und angenehme Töne" erzeugen zu können (1843, § 35 übers.). Auch der Spanier José Jesus Perez folgte dem Beispiel Sors und verzichtete auf den Nagelanschlag: "Um die Saite ohne Fingernägel anzuschlagen, muss man den Finger so aufsetzen, dass er die Saite mit der Fingerspitze berührt, und dann sofort kräftig schräg in Richtung der oberen Zarge und der Decke ziehen, so dass sich die Saite auf der Fingerspitze dreht, bevor sie zu schwingen beginnt" (1843, S. 3 übers.).