Neben der Stützfingertechnik gab es noch eine weitere Spieltechnik, die für das Gitarrenspiel des frühen 19. Jahrhunderts typisch war und heute fast völlig in Vergessenheit geraten ist: der Daumengriff.
Die aus heutiger Sicht kurios anmutende Idee, den linken Daumen als Greiffinger zu verwenden, erscheint weniger abwegig, wenn man sich die zu Beginn des 19. Jahrhunderts praktizierte Gitarrenhaltung vor Augen führt. Die Gitarre wurde auf dem rechten Oberschenkel abgestützt und der Gitarrenhals, der in der Nähe des Sattels zwischen dem Grundglied des Zeigefingers und dem Endglied des Daumens gegriffen wurde, aufrecht und vom Körper weg gehalten. Die Position des Daumens befand sich am oberen Rand des Griffbretts in der Nähe der sechsten Saite. Es war naheliegend, den Daumen zum Greifen der tiefen Basssaite zu verwenden, zumal sich seine Position dadurch nicht wesentlich veränderte. Johann Jakob Staehlin beschrieb die Greifbewegung des Daumens in seiner Anleitung zum Guitarrespiel (1811): "Der Daumen darf nur so viel über dem Griffbrette hervorragen daß derselbe erforderlichen Falls durch eine kleine Bewegung seines vordersten Gliedes die tiefste Saite niederdrücken könne, sonst würde die freye Bewegung der übrigen Finger gehemmt werden" (Staehlin 1811, S. 5; vgl. N. N. 1802, S. 1.9; Gräffer 1811, S. 9; Rosquellas 1813, S. 1; Bathioli 1825 Theil I/1, S. 26; Häuser 1833, S. 6). Wenn man bedenkt, dass die Gitarren des frühen 19. Jahrhunderts schmalere Griffbretter hatten als die heutigen, ist der Daumengriff keineswegs mehr eine Kuriosität. Für die meisten Gitarristen war es damals selbstverständlich, den Daumen als Greiffinger zu benutzen. Mauro Giuliani zum Beispiel benutzte den linken Daumen für das F und das Fis im Bass, außer bei Tonleitern und Passagen (Giuliani 1812, S. 13-28).
Der Daumengriff wurde hauptsächlich in zwei Fällen eingesetzt: Zum einen wurde er verwendet, um Akkorde zu greifen, die mit der herkömmlichen Technik nicht gegriffen werden konnten. So konnten beispielsweise Akkorde mit dazwischen liegenden leeren Basssaiten gegriffen werden (vgl. Giuliani 1812, S. 24). Diesen Aspekt hob Heinrich Christian Bergmann in seiner Kurze[n] Anweisung zum Guitarrspielen (1802) hervor: "Hier ist nur noch das zu merken, daß man auch mit dem Daumen der linken Hand, i. B. auf der tieferen e Saite, vorzüglich bey mehrstimmigen Akkorden, gewisse Töne greifen kann. Man biegt nemlich den Daumen auf dem Griffbrete so, daß alle fünf Finger darauf zu sehen sind" (Bergmann 1802, S. 33). Staehlin hielt den Daumengriff daher gerade im Hinblick auf anspruchsvolle Gitarrenkompositionen für unverzichtbar: "Ohne den Daumen würden manche in neueren Compositionen vorkommende Stellen, wobey auf dessen Mitwirkung vorzüglich gerechnet wird, gar nicht gespielt werden können" (Staehlin 1811, S. 5; vgl. Aubery du Boulley 1842, S. 7).
Zum anderen diente der Daumengriff dazu, die Zuordnung der vier Greiffinger zu den ersten vier Bünden des Griffbretts auch bei gegriffenen Basssaiten beizubehalten. Mit Hilfe des Daumengriffs konnten Melodien mit vier statt mit drei Fingern gespielt werden. Dieser Aspekt klingt in Ferdinando Carullis Rechtfertigung des Daumengriffs an: "In einigen Lehrmethoden verbieten die Autoren den Schülern ausdrücklich, den Daumen der linken Hand auf der den anderen Fingern gegenüberliegenden Seite, auf der sechsten und manchmal auch auf der fünften Saite, zu benutzen. Die Musik ist um so angenehmer, je reicher sie an Harmonie ist, und da vier Finger nicht ausreichen, um gleichzeitig eine Melodie und durchdachte Bässe in verschiedenen Tonarten zu spielen, muss man notwendigerweise den Daumen verwenden; ich lade daher alle, die mit größerer Leichtigkeit spielen wollen, ein, ihn zu benutzen" (Carulli 1819, S. 3f. übers.; vgl. Joly 1819, S. 20; Marescot 1825 I, S. 11; Bruni 1834, S. 25).
Giulianis Studio per la Chitarra (1812) enthält zahlreiche Übungen zur Daumentechnik: Der Daumen greift die E-Saite auf dem ersten oder zweiten Bund der Lage, in der sich die linke Hand gerade befindet. Francesco Bathioli fasste Giulianis Daumentechnik in einer Regel zusammen: "Bei Ausführung der Accorde, wie auch der größern Intervallensprünge von Sexten, Septimen, Octaven u. s. w. (niemals aber bei Skalengängen und kleinern Intervallsprüngen) wird zum Übergreifen der 1. Saite E auf den ersten und zweiten Bund jener Lage, in welcher die Hand ist, stets der Daumen genommen. Ausnahme. Bei Accorden, wo die obern Stimmen auf die tiefern Saiten zu liegen kommen, wodurch das Heraufgreifen des Daumens erschwert wird, nimmt man lieber ... den Zeig- oder Mittelfinger" (Bathioli 1825 Theil I/1, S. 34).
Noten, die mit dem linken Daumen zu greifen waren, wurden gelegentlich im Notentext gekennzeichnet. Die gebräuchlichsten Zeichen für den Daumen waren "Daum." (Molitor), "*" (Giuliani, Kirkman), "p" (Carcassi) und "+" (Legnani). Der Gebrauch des Daumens konnte auch durch eine Vortragsanweisung angezeigt werden, wie z. B. in Giulianis "Otto Variazioni" (op. 6): "7mo tasto col pollice". Häufig musste die Verwendung des Daumengriffs jedoch aus dem Kontext erschlossen werden.
Im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts waren die Befürworter des Daumengriffs deutlich in der Mehrheit. Erst nach 1830 wurde vermehrt Kritik am Daumengriff laut, nicht zuletzt, weil die klassische Gitarrenhaltung durch modernere Haltungen abgelöst wurde und der Daumengriff zunehmend unpraktisch wurde. Bekannte Gegner des Daumengriffs waren François Doisy, Fernando Sor, Francesco Molino, Dionisio Aguado und Napoléon Coste. Sie benutzten den linken Daumen ausschließlich zum Gegenhalten hinter dem Gitarrenhals.
Doisy lehnte den Daumengriff aus Praktikabilitätsgründen ab: "Man bedienet sich gewöhnlich der vier Finger zum spielen; obgleich einige manchmal auch den Daumen dazu nehmen; doch erleichtert und verschönert dieser das Spiel nicht" (Doisy 1802, S. 4; vgl. Lehmann 1820, S. 7).
Sor untersuchte mit wissenschaftlicher Genauigkeit die Auswirkungen des Daumengriffs auf die Haltung und Ergonomie beim Gitarrenspiel. Zunächst analysierte er die Körperhaltung der Gitarristen, die den Daumengriff benutzten, und stellte fest, dass diese unnatürlich und unbequem war: "Ich bemerkte dass die Franzosen und Italiener sie in der Regel so halten, wie es Fig: 8 darstellt und dass die Linie AF immer mit jener parallel laufe, auf welcher das Auge den Spieler erblickt: diese Stellung nöthigte mich, so oft ich es versuchte, sie anzunehmen, die rechte Schulter auf eine unbequeme Weise vorzuschieben: mein Arm, ohne alle Stütze, konnte keine feste Lage für die Hand finden; die Flechsen, beständig angestrengt, um den Arm in einer so wenig natürlichen Richtung zu halten, wie die des Winkels BCD, erschwerten mir die Bewegung der Fingerglieder, und oft empfand ich Schmerzen" (Sor 1831, S. 8).
Anschließend untersuchte er die Haltung der linken Hand beim Daumengriff und stellte fest, dass die Finger der Greifhand nicht senkrecht, sondern nur flach auf die Saiten gelegt werden konnten. Dies hatte zur Folge, dass die darunter liegenden Saiten gedämpft wurden: "Diese Hand veranlasste mich zu weit mehr Betrachtungen als die rechte: ich sah, dass die Mehrzahl der Guitaristen nur die Hälfte der Hand oberhalb des Halses hatte, indem sie solchen mit der Spitze des Winkels hielten, welchen Daumen und und Zeigefinger bilden (fig: 12) dass in dieser Lage ich den Zeigefinger sehr heftig zusammenziehen müsse, um F auf dem ersten Griff der Quinte niederzudrücken; dass, da meine Fingerspitzen nicht senkrecht auf die Saiten fielen, es mehr Anstrengung bedürfe um sie zu drücken und dass es daher fast nicht zu vermeiden sei, dass die benachbarte Saite mitgedrückt und ein Ton erstickt werden müsse, dessen ich benöthigt seyn konnte" (ebd., S. 10). Eine größere Sattelbreite oder kleinere Hände verstärkten diesen Effekt.
Sor kam in seiner Untersuchung zu dem Schluss, dass die Verfechter der Daumengrifftechnik die Möglichkeiten der Gitarre nicht ausschöpfen: "... indem sie selbst sagen, dies Instrument sei vorzüglich zur Begleitung bestimmt, und es daher unter die Harmonie-Instrumente zählen, beginnen sie doch damit, es als ein Instrument für Melodie zu behandeln, denn sie fangen ihren Unterricht mit Tonleitern an um den Fingersatz zu lernen: hierdurch gewöhnen sie sich alle Kräfte der linken Hand auf die Melodie zu verwenden und begegnen grossen Schwierigkeiten, wenn sie einen richtigen Bass hinzufügen sollen, sobald dieser nicht innerhalb der leeren Saiten liegt und noch viel grössern; wenn eine oder zwei Mittelstimmen hinzu kommen sollen. (...) Hierzu kommt noch der Übelstand, dass sie nicht den geringsten Halt für die Guitarre haben, denn da sie die ganze Hand auf den Saiten haben müssen, um einen Accord hervorzubringen, so können sie die Hälfte derselben nicht hinter dem Halse lassen, wie sie thun müssen um sie zu halten" (ebd. S. 2).
Den Befürwortern des Daumengriffs warf er vor, die Gitarrenmusik durch miserable Kompositionen in Verruf zu bringen: „Wenn man ersucht, es [= das Instrument] ... zu spielen, indem man den Hals nach der Art gewisser Gitarristen stützt, so wird man die Unmöglichkeit sehen, (auf diese Weise) etwas anderes zu spielen als die Mandoline eine Oktave tiefer und mit einer Bassnote hier und da: das heißt, armselige Musik. Vergeblich werden einige Gitarristen Schwierigkeiten anhäufen, um den Pöbel zu blenden, indem sie ein schönes und erfolgreiches Stück, das für Orchester komponiert wurde, wie die Ouvertüre zu Wilhelm Tell, Semiramis etc., an sich reißen. Die Notwendigkeit, es der Harmonie in den Momenten zu berauben, in denen sie unbedingt notwendig ist, und sogar das Skelett zu verstümmeln, damit es die Reichweite ihrer Finger nicht überschreitet, die wegen des absurden Gebrauchs des Daumens für die Noten der sechsten Saite verkürzt und schlecht platziert sind, wird die köstlichste Musik erbärmlich und dürftig machen. Das aber ist, was man zu nennen wagt, Arrangieren“ (Vorwort zur Fantaisie Elegiaque, op. 59 übers.).
Bei der Komposition von Musik für Gitarre ging Sor den umgekehrten Weg. Er passte nicht die Musik dem begrenzten Aktionsradius der Finger an, sondern den Aktionsradius der Finger der Musik. In seinen Kompositionen verzichtete er auf Passagen, die nur mit dem Daumengriff ausgeführt werden konnten, zugunsten einer Greiftechnik, die den Fingern einen größeren Bewegungsradius bot. Auf diese Weise war er in der Lage, mehrstimmige Musik mit Bass, Mittelstimme und Melodiestimme zu spielen und nicht nur eine dünne Melodie mit wenigen Basstönen.
Bei der Suche nach der optimalen Haltung der Greifhand ließ sich Sor von der anatomischen Erkenntnis leiten, dass der Daumen der einzige Finger ist, der sich gegenläufig bewegen kann: "Ich fieng also damit an als festen Grundsatz zu betrachten, weil er kürzer sei als die übrigen Finger und sein Spiel eine dem ihrigen entgegengesetzte Richtung nehmen könne, so sei er bestimmt jenen entgegen zu kommen und dem Halse, dessen Profil der Abschnitt A (VI Taf: fig.: 14) darstellt, einen Stützpunkt darzubieten, damit er dem Druck der Finger auf die Saiten nicht nachgebe, denn da diese Finger senkrecht niederfallen müssen, so gab die Stellung des Zeigefingers F den äussersten Gliedern diese Richtung und wenn ich die genannten Finger ausstreckte, so konnte ich ohne Schwierigkeit den Punkt B erreichen; setzte ich ferner die Spitze des Daumens M auf den Punkt N, so konnte ich die des Zeigefingers auf C setzen, ohne seine Glieder so gewaltsam zusammenziehen zu müssen, als wenn der Hals auf dem Punkte O ruhte und endlich gebrauchte ich den Daumen, wie man ihn auf dem Pianoforte gebraucht, als eine Pfahl auf welchem die ganze Hand ihre Lage verändert, und welcher ihr zum Führer dient um die wieder zu finden, welche sie verlassen hatte" (ebd. S. 11).
Befand sich der Daumen auf der Rückseite des Halses in Opposition zu den Greiffingern, konnten die Finger senkrecht auf das Griffbrett aufgesetzt werden. Diese Greifhaltung bot den Fingern einen großen Aktionsradius. Damit der Daumen durch die Gegenbewegung nicht überbeansprucht wurde, empfahl Sor, den Daumen locker auf die Rückseite des Halses zu legen und dem Gegendruck des Halses nur passiv, nicht aktiv zu widerstehen: "kurz der Daumen soll den Hals nicht suchen, sondern der Hals dem Daumen begegnen" (ebd. S. 13).
Molino schloss sich Sors Auffassung uneingeschränkt an: "Ich rate den Schülern, niemals den Daumen der linken Hand zu benutzen, denn man kann auf der Gitarre alle Harmonien erzeugen, für die sie empfänglich ist, ohne diesen Finger zu benutzen, da man, um ihn zu platzieren, die Hand völlig aus ihrer Position bringen muss; außerdem ist der Gebrauch des Daumens für kleine Hände sehr unbequem. Die Musik des Herrn Sor ist so voll von Harmonien, dass man sie für die Musik eines Piano-Forte halten könnte; und doch spielt er sie ohne Zuhilfenahme des Daumens" (Molino 1823, S. 11 übers.).
Aguados Auffassung von der Haltung der Greifhand war identisch mit der von Sor. Aguado erkannte zwar, dass Akkorde mit leeren Zwischensaiten nicht ohne den Daumen auf der sechsten Saite gespielt werden konnten. Er verzichtete jedoch auf diese Möglichkeit zugunsten einer Greiftechnik, bei der das Daumenendglied gegenüber dem Mittelfinger in der Mitte des Halsrückens angesetzt wurde. Die vier Greiffinger wurden so gekrümmt, dass ihr letztes Glied senkrecht auf die jeweils zu greifende Saite fiel. In seiner Coleccion de Estudios para Guitarra (1820) und ausführlicher in seiner Escuela de Guitarra (1825) beschrieb Aguado die Vorteile dieser Haltung: "Diese Position gibt dem geübten Spieler genügend Halt, um alle Basssaiten mit dem kleinen Finger leicht zu erreichen, wenn er sich anbieten kann, was nicht leicht zu erreichen wäre, wenn der Daumen die ganze Breite der Halsrückseite umfassen würde" (I, S. 4).
Im postum erschienenen Anhang zu seiner Gitarrenschule empfahl Aguado, den Daumen unterhalb der Halsmittellinie gegenüber dem Ringfinger und dem kleinen Finger zu platzieren: "Das letzte Glied des Daumens dieser Hand muss, nachdem das Handgelenk weit ausgestreckt wurde, immer so gebogen werden, dass es eine fast senkrechte Linie zum Hals bildet, wobei die Nagelspitze diesen leicht berühren sollte: Ich sage fast, weil sie den Hals auf der linken Seite des Daumens berühren sollte. Seine Platzierung sollte generell etwas unterhalb der Längslinie liegen, die in der Mitte des Halses verläuft, und sollte gleichsam gegenüber dem Ring- und kleinen Finger platziert werden: Auf diese Weise dient er allen als Stütze. Seine Lage kann jedoch höher oder niedriger als diese Längslinie sein, je nachdem, wie die vorderen Finger agieren, mal auf den Basssaiten, mal auf den Diskantsaiten" (Aguado 1849, S. 11 übers.). "Das letzte Glied der Finger dieser Hand sollte so gekrümmt sein, dass es mit dem nächsten Fingerglied einen deutlichen Winkel bildet. Seine Richtung sollte etwas schräg sein, wie in Abb. 3 der Tafel 1 zu sehen ist" (ebd. S. 12 übers.).
Trotz der Kritik einiger der bedeutendsten Gitarristen der Zeit blieb der Daumengriff in Gebrauch und wurde in den Gitarrenschulen als Ergänzung zum Barrégriff gelehrt (vgl. Hamilton 1834, S. 3; Parrini 1841, S. 5; Legnani 1847, S. 4). Pierre Joseph Plouvier drehte den Spieß sogar um und kritisierte Molino dafür, dass er seinen Schülern vom Gebrauch des Daumengriffs abriet: "Die Schüler, die heute die Methode dieses Autors anwenden würden, wären nicht in der Lage, moderne Musik zu spielen, weil sie sich nicht daran gewöhnt haben, den Daumen der linken Hand zu benutzen, was aber unbedingt notwendig ist, selbst für die Begleitung" (Plouvier 1836, S. 29 übers.).