Der Fingersatz der rechten Hand wurde im frühen 19. Jahrhundert mit Zahlen, Buchstaben oder Zeichen über oder unter den Noten notiert. Er gab dem Spieler eine Empfehlung, welche Finger er für bestimmte Noten benutzen sollte.
Die gebräuchlichsten Fingersatzzeichen für Daumen, Zeige-, Mittel- und Ringfinger waren: . .. ... .... (Bevilacqua, Lemoine, Carulli 1, Bornhardt, Joly, Legnani), 1 2 3 4 (Bergmann, Staehlin, Lehmann, Molino), D. 1. 2. 3. (Gräffer), ^ . .. ... (Giuliani, Bathioli, Pelzer), ∆ 1 2 3 (Blum), ∆ . .. ... (Kníže, Kirkman), x 1 2 3 (Sor), + . .. ... (Nüske, Carcassi), A B C D (Carpentras) und p i m a (Meissonnier, Carulli 2, Aguado, Aubery du Boulley, Plouvier).
Die Fingersätze sollten in erster Linie einen zweckmäßigen Einsatz der Finger ermöglichen. Dementsprechend wurden die Anschlagfinger den sechs Saiten der Gitarre in ihrer natürlichen Reihenfolge zugeordnet: Der Daumen schlug die Basssaiten an, Zeige-, Mittel- und Ringfinger die Diskantsaiten. Diese Zuordnung der Finger zu den Saiten findet sich in allen Gitarrenschulen des frühen 19. Jahrhunderts. Exemplarisch sei hier aus Bergmanns Kurze[r] Anweisung zum Guitarrspielen (1802) zitiert: "Einige Ausnahmen abgerechnet, welche von der öftern Abwechselung herkommen, und wovon weiter unten mehr gesagt wird, schlagen die Finger die Saiten in der Ordnung an, daß der Daumen für die drey tiefern e, a, d, auch wohl allenfalls noch für die vierte g, bestimmt ist. Eigentlich aber gehört die vierte g, für den zweyten [= Zeigefinger], die fünfte h, für den dritten, und die sechste e, für den vierten Finger" (Bergmann 1802, S. 3; vgl. Phillis 1799, S. 1; N. N. 1802, S. 2.10; Scheidler 1803, S. 3; Bevilacqua 1808, S. 2; Staehlin 1811, S. 7; Gräffer 1811, S. 10; Molino 1813, S. 9; Rosquellas 1813, S. 3; Blum 1818, S. 8; Harder 1819, S. 41; Bathioli 1825 I/1, S. 27; Lehmann 1820, S. 9; Marescot 1825 I, S 10; Carnaud 1826, S. 3; Häuser 1833, S. 6; Bruni 1834, S. 9; Pelzer 1835, S. 8; Carcassi 1836, S. 10; Aguado 1849, S. 6).
Die Zuordnung der Anschlagfinger zu den Gitarrensaiten sollte dem Anfänger eine erste Orientierung geben. Für die Praxis reichte sie jedoch nicht aus, da schon bei den einfachsten Stücken der Wechsel von zwei Fingern auf derselben Saite erforderlich war. Ausnahmen, die nicht in das übliche Fingerschema passten, wurden in den Gitarrenschulen mit Hilfe von Notenbeispielen oder Fingersatzregeln behandelt. Daneben gab es auch Versuche, ein einheitliches Regelsystem für den Fingersatz zu entwickeln. Ein solches Regelsystem stellte Francesco Bathioli in seiner Gemeinnützige[n] Guitareschule (1825) vor. Bathioli wies darauf hin, dass die Zuordnung der Anschlagfinger zu den Saiten eine "bloß einstweilige Fingerordnung" sei. Sie müsse erlernt werden, weil sie für die "Erlangung eines guten und gleichen Anschlages" vorteilhaft und zweckmäßig sei. Erst wenn man die Fähigkeit erlangt habe, die Saiten gleichmäßig anzuschlagen, könne man sich den "eigentlichen Regeln der Fingerordnung, welche für jeden einzelnen Zweig der Guitarekunst nöthig sind", zuwenden (Bathioli 1825 I/1, S. 27 Anm.). Die eigentlichen Fingersatzregeln formulierte Bathioli im Hinblick auf die Harmonielehre und gruppierte sie nach drei Gesichtspunkten: 1. Tonleitern, 2. Intervalle und 3. Akkorde (vgl. Carcassi 1835, S. 10). In den folgenden Abschnitten sollen diese drei Aspekte näher betrachtet werden.
Im ersten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts wurde das Schema, bei dem jeder Greiffinger einer Saite zugeordnet ist, für das Spiel von Tonleitern oder Passagen verwendet. Der erste Ton einer Tonfolge wurde mit dem der Saite zugeordneten Finger angeschlagen, die folgenden Töne wurden mit der Greifhand an diesen Ton gebunden. Die so entstandene musikalische Figur wurde als "Roulade" bezeichnet (vgl. Koch 1802, Sp. 1274). François Doisy verglich die Ausführung der Roulade mit der eines Vorschlags: "Man verfährt bei Ausführung der Läufe sowohl im Auf- als Absteigen auf die nämliche Art, wie bei den Vorschlägen" (Doisy 1802, S. 68; vgl. Phillis 1799, S. 9; Lemoine 1807b, S. 3).
Nur bei langsamen Passagen durfte der Wechselschlag verwendet werden. Dabei wurden die Saiten abwechselnd mit dem Daumen und dem Zeigefinger angeschlagen. Der Daumen wurde für die starken und der Zeigefinger für die schwachen Taktteile verwendet. Bei Doisy heißt es: "Der gebrochene Läufer ist der schwerste und kann nur im langsamen Tempo gemacht werden. Mit Doppelnoten oder mit Accorden ist er im Presto und Allegro unausführbar. Man macht denselben wechselsweise mit dem Daumen und dem ersten Finger der rechten Hand" (Doisy 1802, S. 69). Die Formulierung macht deutlich, dass die Einfingertechnik zur spieltechnischen Erleichterung eingesetzt wurde. Zu diesem Zweck empfahl sie auch Heinrich Christian Bergmann: "Eine große Erleichterung kann man sich auch bey dem Spielen dadurch verschaffen, daß man nicht für jeden Ton, welcher mit der linken Hand auf dem Griffbrete, mit einem besondern Finger muß gegriffen werden, jedesmal mit dem dazu gehörigen Finger der rechten Hand, zum Anschlagen desselben, zu nehmen braucht. - Es versteht sich, daß hierunter nur laufende Töne, welche auf einer Saite vorkommen, verstanden werden (...). Schlägt man aber nur den ersten Ton an - es sey Saite oder Stufe - und läßt die andern beyden, so daß man den Finger der rechten Hand sogleich wieder aufhebt, mit den Fingern der linken Hand durchgehen, so wird dies viel leichter seyn" (Bergmann 1802, S. 26; vgl. Scheidler 1803, S. 6; Gatayes 1803, S. 8; Molino 1813, S. 30; Harder 1819, S. 72; Carprentas 1820, S. 6).
Simon Molitor und Johann Jakob Staehlin nutzten die Einfingertechnik auch aus klanglichen Gründen. Sie bezeichneten das Binden der Töne in Anlehnung an Carullis Begriff Écho als "Nachhallen": "Das Nachhallen der Töne kommt dabey sehr in Betrachtung und muss auf alle mögliche Art geltend gemacht werden damit im Spiele keine Lücken entstehen. Alles was daher die Schwingung der Saiten beeinträchtigen könnte muss sorgfältig vermieden werden" (Staehlin 1810, S. 31; vgl. Molitor 1806, S. 19; Carulli 1819, S. 32). Staehlin wies zudem darauf hin, dass die Kombination von Legato- und Non-Legato-Spiel bei Tonleitern ein breites Spektrum an Artikulationsmöglichkeiten zulasse: "Dergleichen Tonfolgen sind sehr verschiedener Ausführung in Absicht auf die Verbindung der einzelnen Töne, oder des Abstoßens derselben fähig, die von der Willkühr des Spielenden abhängt, wenn sie nicht absichtlich vorgeschrieben ist" (Staehlin 1810, S. 32).
Wegen ihres klanglichen Effekts blieben die "rollenden Passagen" oder "Rouladen" auch später noch in Gebrauch. Francesco Bathioli schätzte sie, weil sie "auf der Guitare eine sehr überraschende Wirkung" machten (Bathioli 1825 II/1, S. 7). Und Matteo Carcassi nutzte sie, um sein Spiel abwechslungsreicher zu gestalten: "Man kann auch Tonleitern in gebundenen Noten sowohl auf- als absteigend spielen, durch blosses Gleiten des Daumens" (Carcassi 1835, S. 40). Bathioli wandte in bestimmten Fällen den Wechselschlag bei der Ausführung von Rouladen an: "Wenn eine und dieselbe Saite mehrmal anzuschlagen ist, so verfährt man nach den Regeln des Wechselschlages" (Bathioli 1825 II/1, S. 10). Und Marziano Bruni konnte ganz auf den Einsatz der rechten Hand verzichten. Er führte die rollenden Passagen nur mit den Fingern der linken Hand aus (Bruni 1834, S. 17). Die musikalische Funktion der Rouladen liegt auf der Hand. Sie "überrollen" im wahrsten Sinne des Wortes die metrische Akzentuierung eines Taktes. Eine Passage klingt dadurch leichter und flüssiger, als wenn sie im Wechselschlag gespielt würde.
Carulli empfahl Anfängern, die Töne der Tonleiter immer nur mit einem Finger anzuschlagen, je nach Lage der Saite, auf der sie liegen, mit Daumen, Zeige- oder Mittelfinger: "Anfangs aber sollte die sechste, fünfte und vierte Saite mit dem Daumen der rechten Hand gezupft werden, die dritte und zweite mit dem Zeigefinger, und die Chanterelle mit dem Mittelfinger" (Carulli 1819, S. 4 übers.).
Johann Heinrich Carl Bornhardt und D. Joly verwendeten diese Anfängervariante als allgemeine Anschlagstechnik. Bornhardt empfahl, bei "auf und absteigenden Tonleitern" die Saiten einzeln mit den
Fingern in ihrer natürlichen Lage anzuschlagen, also die Basssaiten nur mit dem Daumen, die G-Saite nur mit dem Zeigefinger, die H-Saite nur mit dem Mittelfinger und die hohe E-Saite nur mit
dem Ringfinger (Bornhardt 1819, S. 8).
Joly hingegen schlug die drei Basssaiten mit Daumen, Mittel- und Zeigefinger an: "Bei Nr. 3 bewegt sich die Hand nicht, jeder Finger ist einer Saite zugeordnet und man erhält viel klarere Töne, da die Saiten immer in die gleiche Richtung gezupft werden und ihre Schwingungen nicht unterbrochen werden" (Joly 1819, S.11 übers.). Er hoffte mit seiner "neuen Art", die Saiten anzuschlagen, die "wahren Amateure" zu erreichen, "diejenigen, die einem Künstler die Mühen, die er auf sich nimmt, anrechnen" (ebd.). Doch seine Idee fand keinen Anklang. Bornhardt erkannte später die Nachteile der vereinfachten Anschlagstechnik und verwarf sie zugunsten der konventionellen Einfingertechnik, bei der die Töne "gerollt" werden, "weil das angenehme Spiel davon abhängt" (Bornhardt 1837, S. 3; vgl. 1841, S. 10).
In den 1810er Jahren ging man von der Einfingertechnik zum Wechselschlag über. Anton Gräffer stellte in seiner Systematische[n] Guitarre-Schule (1811-12) bereits beide Techniken vor, ohne eine der beiden zu bevorzugen (Gräffer 1812, S. 13f.).
Entscheidende Impulse für die Entwicklung der Anschlagstechnik gingen von Ferdinando Carulli und Mauro Giuliani aus. Im Gegensatz zu ihren Vorgängern setzten sie die Bindetechnik nicht aus spieltechnischen Gründen zur Erleichterung des Skalenspiels ein, sondern verstanden das Legato, ebenso wie das Non-Legato und Stakkato, als eine Artikulationstechnik. Der Wechselschlag wurde für das übliche Non-Legato-Spiel verwendet, während das "Schleifen" und das "Abstoßen" der Töne dazu diente, die Standardartikulation zu variieren. Für Carulli und Giuliani hatten die Artikulationstechniken eine ähnliche Funktion wie die Verzierungen. Beide dienten als Mittel der melodischen Gestaltung. In Carullis Méthode Complette Pour Guitare ou Lyre (1810) folgen die Kapitel "Die Art, die Noten zu binden oder zu schleifen" und "Die kleinen Noten und die Verzierungen" direkt aufeinander und im dritten Teil von Giulianis Studio per la Chitarra (1812) werden Artikulationstechniken und Verzierungen gemeinsam behandelt.
Carulli erklärt in seiner Schule zunächst die Nachteile der Einfingertechnik, um dann auf die Vorteile des Wechselschlags einzugehen: "Wenn man mit einem einzigen Finger auf jeder Saite zupft, wie ich im ersten Teil dieser Methode gesagt habe, kann dieser eine Finger, wenn es viele Sechzehntelnoten in einem ALLEGRETTO- oder ALLEGRO-Musikstück gibt, nicht ausreichen, um alle Noten, die auf einer Saite liegen, im Takt zu spielen, so dass man, nachdem man die ersten Lektionen dieses Werkes durchgearbeitet hat, sich angewöhnen muss, [die Noten] auf folgende Weise zu sondern.
Um die Noten zu sondern und leicht eine große Anzahl von ihnen in einer lebhaften Bewegung zu spielen, muss man zwei Finger nacheinander auf derselben Saite verwenden, ohne überrascht zu sein, wenn man mehrmals, beim Aufsteigen, nachdem man die zweite Saite mit dem Mittelfinger gezupft hat, die Chanterelle mit dem Zeigefinger zupfen muss, und beim Absteigen, nachdem man die Chanterelle mit dem Zeigefinger gezupft hat, gezwungen ist, die zweite Saite mit dem Mittelfinger zu zupfen.
NB Diese Art des Sonderns wird nur bei der Chanterelle, der zweiten und der dritten Saite angewendet; für die anderen Saiten, die nur für die Bass- oder Begleittöne verwendet werden, genügt der Daumen" (Carulli 1819, S. 29 übers.).
Giuliani verwendete den Wechselschlag für das Staccato, das er begrifflich von Smorzato, der Legatura und dem Strisciato unterschied. Mit "Staccato" bzw. "Sonderung" bezeichnete er das Non-Legato-Spiel. Die Töne sollten durch den Wechselschlag voneinander "gesondert" werden. Dabei benutzte Giuliani den Mittelfinger für die starken und den Zeigefinger für die schwachen Taktteile (vgl. Giuliani 1812, S. 31). Beim begleiteten Melodiespiel wurden die Basssaiten mit dem Daumen angeschlagen. Schnelle Skalenläufe im Bass führte er teilweise mit Bindungen aus, um die Ausführung zu erleichtern, ansonsten mit dem Wechselschlag (vgl. Giuliani, op. 18).
Nachdem sich der Wechselschlag als Anschlagstechnik für Tonleitern und Passagen durchgesetzt hatte, gab es unterschiedliche Auffassungen darüber, wie und in welchem Umfang der Wechselschlag ausgeführt werden sollte. Carl Blum beispielsweise schlug alle Töne einer Tonleiter mit Daumen und Zeigefinger an (vgl. Blum 1818, S. 12). František Max Kníže hingegen benutzte Daumen und Zeigefinger für die Basssaiten, Zeige- und Mittelfinger für die Diskantsaiten (vgl. Kníže 1820, S. 25). Daumen und Mittelfinger wurden für die starken und der Zeigefinger für die schwachen Taktteile verwendet (vgl. Bathioli 1825 II/1, S. 7; Carpentras 1824, S. 5; Pelzer 1835, S. 35; Kirkman 1842, S. 3). Eine problematische Stelle war der Übergang zwischen Bass- und Diskantsaiten, wo manchmal der Zeigefinger für die starken Taktteile eingesetzt werden musste. Bis in die 1820er Jahre scheint der Wechselschlag für die Basssaiten weiter verbreitet gewesen zu sein als der Daumenschlag. Dies wird durch eine Notiz von Charles de Marescot bestätigt: "Die verschiedenen Arten des Zupfens lassen sich in zwei Klassen einteilen: Die erste ist die, bei der die Noten in Tonleitern verlaufen oder mehrere hintereinander auf derselben Saite liegen ... und die keine andere Ausnahme hat, als abwechselnd den Daumen und den ersten Finger zu verwenden, anstatt den Daumen allein für die Grundtöne. Aber obwohl diese zweite Methode in Bezug auf die Geschicklichkeit besser zu sein scheint als die andere, wird sie wegen der ungleichen Tonfolge nur selten verwendet" (Marescot 1825 II, S. 4 Übers.). Erst nach und nach setzte sich der Daumenanschlag bei Tonleitern für die Basssaiten durch. So verwendeten Carcassi und Plouvier den Wechselschlag nur für die Diskantsaiten (vgl. Carcassi 1835, S. 12; Plouvier 1836, S. 7). Johann Kaspar Mertz hingegen schlug alle Töne der Skala mit Ausnahme des tiefsten Basses mit Zeige- und Mittelfinger an (vgl. Mertz 1848, S. 11.19).
Fernando Sor hatte eine konservative Einstellung zum Skalenspiel. Er hielt die alte, aus der Mode gekommene Technik, die Töne zu "rollen", also in Gruppen zu binden, für die geeignetste. Mit Hilfe der Legatotechnik konnte er Passagen und Läufe kantabel gestalten: "Was die rechte Hand betrifft, so suchte ich niemals die Tonleiter abgestossen oder sehr rasch zu spielen, weil ich glaubte, die Guitarre werde niemals die Eigenthümlichkeiten der Violine genügend nachbilden können, während ich durch Benützung der Leichtigkeit, welche sie, die Töne zu binden, darbietet, die eigenthümliche Weise des Gesangs desto besser nachahmen konnte. Aus diesem Grunde greife ich nur die Note, womit jede der Gruppen beginnt, aus welchen der Satz bestellt, zb. in dem 29ten Beispiel" (Sor 1831, S. 25).
Außerdem konnte er die rechte Hand in ihrer natürlichen Ruheposition belassen, während die Ausführung des Wechselschlags auf allen sechs Saiten zu einer Verrenkung der Hand oder zu einer unnatürlichen Haltung geführt hätte: "lch konnte diese Lage nicht annehmen, ohne den Arm zu verrücken, (daher die Schwierigkeit, in die mir zusagende Lage zurückzukehren) oder den Handballen zu krümmen, wie es fig: 24. darstellt, was mir unmöglich machte die Saite anzuschlagen, ohne die Geberde des Reissens anzunehmen, denn die Richtung der Finger in ihrem natürlichen Spiel wird nicht angegeben durch die Linie B A, sondern durch die Linie C D, und sollte ich den Finger von der Seite her wirken lassen, in der Richtung, welche die Bewegung der Fingerglieder erlaubt, so musste ich die ganze Hand in Bewegung setzen, um ihm diejenige Richtung zu geben, die zum Anschlagen nöthig ist" (ebd. S. 26). Auch bei den "absteigenden Gruppen von drei Noten" nahm Sor die linke Hand zu Hilfe und band die drei Noten aneinander, indem er "für alle drei den gleichen Fingersatz" wählte (ebd. S. 45).
Sor benutzte den Wechselschlag nur auf einzelnen Saiten, meist auf der Chanterelle: "Ich weiss, dass die Fingersetzung bei abzustossenden Tönen sich auf abwechselnden Gebrauch zweier Finger auf derselben Saite beschränkt; ich gebrauche sie auch oft also, aber nie anders als auf der Quinte und sehr selten auf der zweiten Saite, und auch dann nur in einem einzelnen Satze für nicht accentuirte Takttheile, indem ich mir den Daumen für die accentuierten vorbehalte. Vgl. das 31te Beispiel" (ebd. S. 26). Für den Wechselschlag benutzte er Daumen, Zeige- und Mittelfinger, da so die Anschlaghand in ihrer natürlichen Ruheposition bleiben konnte: "der Leser mag die Erfahrung machen, indem er eine Saite mehrmals abwechselnd mit dem ersten und zweiten Finger schnell hintereinander greift; er wird sehen, dass er es nicht thun kann, ohne den dritten und vierten zu bewegen; wenn er aber dieselbe Verrichtung mit dem Daumen und dem Zeigefinger vornimmt, so wird der untere Theil in keine andere Bewegung gerathen, als diejenige, welche die Thätigkeit des Daumens der ganzen Hand mittheilt" (ebd. S. 45). Ein Beispiel für die beschriebene Anschlagstechnik findet sich in Sors Übung op. 35, Nr. 19.
Der Fingersatz hatte in erster Linie die Funktion, ein ergonomisches und ökonomisches Spiel zu ermöglichen. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts hatte er jedoch noch eine weitere Funktion. Er diente dazu, auf einfache und natürliche Weise metrische Akzente zu setzen. Fernando Sor bestätigte die Doppelfunktion des Fingersatzes in seiner Guitarre-Schule (1831): "Dieser Fingersatz hat nicht allein zum Zweck, die Zahl der Finger so viel als möglich zu sparen, sondern auch, mein Verfahren zum Ausdruck des musikalischen Accents zu machen, welcher nichts anders ist, als der Anfang eines jeden der aliquoten Theile des Tactes" (Sor 1831, S. 23). In der klassisch-frühromantischen Epoche wurden die Takte metrisch gegliedert, weil man die Musik in Analogie zur Sprache als Klangrede verstand. Die Sprache der Musik bestand wie die gesprochene Sprache aus betonten und unbetonten Silben, Wörtern und Sätzen. Die Gitarristen konnten das Gewicht der Anschlagfinger nutzen, um die natürlichen Akzente des Taktes zu betonen. Bei der Wahl des Fingersatzes folgte man der Regel des stärksten Fingers: Bei betonten Zählzeiten wurden die Saiten mit dem Daumen oder Mittelfinger angeschlagen, bei unbetonten Zählzeiten mit dem Zeigefinger. So entstand der Wechselschlag p - i, m - i.
In der Romantik änderte sich das Verständnis von Musik. Musik wurde als Ausdruck des individuellen Gefühlslebens verstanden. Ihre Sprache folgte keinen festen Regeln außer denen des Tondichters
selbst. Dementsprechend verlor die Betonung, die einem metrischen Schema folgte, an Bedeutung. Für den Wechselschlag hatte dies zur Folge, dass bei der Wahl des Fingersatzes nicht mehr konsequent
auf die Regel des stärksten Fingers geachtet wurde. Der übliche Fingersatz p - i oder m - i konnte problemlos durch i - m ersetzt werden, wie z. B. bei Mertz
und Aguado. Es wurde mehr Wert auf einen gleichmäßigen Anschlag gelegt, der flexibel expressive Akzente setzen konnte. So ließ Aguado seine Schüler die Tonleitern mit nur einem Finger spielen, um gleichmäßige Töne zu erzeugen. Die Schüler sollten die Basssaiten mit dem Daumen und die Diskantsaiten mit dem Zeigefinger anschlagen (Aguado 1843, §§
68.72).
Aguado benutzte den Wechselschlag nur, wenn zwei aufeinanderfolgende Töne den gleichen Wert hatten. Ansonsten benutzte er denselben Finger noch einmal: "Die rechte Hand spielt diese Skalen wie im folgenden Beispiel gezeigt. In allen wechseln sich Zeige- und Mittelfinger ab, nur im 1. Abschnitt gibt es diesen Unterschied: wenn die beiden Noten dieses Abschnitts gleichwertig sind, wird die Tonleiter mit der Reihenfolge der Finger von Nr. 1. ausgeführt; wenn diese beiden Noten ungleichwertig sind, werden sie mit den Fingern ausgeführt, die in Nr. 2. angegeben sind; und wenn diese beiden Noten gebunden sind, werden sie auf die Weise ausgeführt, die in Nr. 3. angegeben ist" (ebd. § 215 übers.). Aguado hatte ursprünglich Zeige- und Ringfinger für die Skalen verwendet und erst auf Anraten von Fernando Sor Zeige- und Mittelfinger (vgl. 1834, S. 10).
In der Praxis konnte der Wechselschlag nicht immer kontinuierlich ausgeführt werden. In einigen Fällen musste ein Finger zweimal hintereinander oder ein dritter Finger eingesetzt werden. Francesco Bathioli ging in seiner Gitarrenschule ausführlich auf diese Ausnahmen ein.
Zunächst wies Bathioli darauf hin, dass bei der Wahl des Fingersatzes auch die natürliche Ruheposition der Anschlaghand und die Anordnung der Anschlagfinger über den Saiten zu berücksichtigen seien. Dies konnte zur Folge haben, dass die hohe E-Saite mit dem Ringfinger statt mit dem Mittelfinger angeschlagen wurde: "Auf der 6. Saite e wechselt wohl auch öfters der Zeig- mit dem Goldfinger: aber nur dann, wenn der Goldfinger nach der natürlichen Folge und Ordnung der Finger zum Anschlage jener Saite schon in Bereitschaft ist, worauf dann der Zeigfinger folgt. Fährt auf jener 6. Saite e die Melodie weiter fort, so bleibt der Goldfinger weg" (Bathioli 1825 II/1, S. 7).
Diese Regel galt auch für den ersten Ton einer Skala oder Passage: "Nimmt man auf jener Saite, wo die Skala, oder eine melodische Figur überhaupt anfängt, immer zuerst jenen Finger, welcher derselben Saite gewöhnlich zukommt" (ebd. S. 8). Allerdings nahm Bathioli die hohe E-Saite und den Ringfinger von dieser Regel aus: "Nur auf der 6. Saite e nimmt man, wenn die Skala auf dieser anfängt, lieber den Mittel- als Goldfinger, weil man diesen letzten wegen seiner geringen Fähigkeit bei allen Gelegenheiten, wo er nicht unumgänglich nöthig ist, ausschließt" (ebd.). Auch punktierte Noten auf den Basssaiten fielen nicht unter diese Regel, da "für die kurze Note der Zeigfinger, und für die punktirte der Daumen gebraucht" wurde (ebd. S. 10).
Einen Sonderfall stellte der Saitenwechsel dar, wenn "der Daumen über den Zeigfinger, und umgekehrt, dieser über jenen; ferner ... der Zeig- über den Mittelfinger, und umgekehrt, dieser über jenen hintreten" musste (ebd. S. 8). Bathioli erlaubte zwar das Überkreuzen der Finger beim Wechsel auf eine andere Saite, empfahl aber, in bestimmten Fällen einen Finger "zweimal zum Anschlage" zu verwenden, nämlich:
1. "Wenn beim Übergange von einer Saite zur andern das Hintreten eines Fingers über den andern 2, 3 oder mehrere Male nach einander im Gange der Melodie sich ergäbe",
2. "Wenn nach einer beendigten aufsteigenden Figur ein Sprung über eine oder zwei Saiten von der höhern auf eine tiefere erscheint" oder umgekehrt
3. "der Mittelfinger von einer tiefern schnell auf eine höhere Saite überschreiten" muss,
4. "wenn nach einer langen, kurze Noten folgen, weil der Wechselschlag nur ausschließlich für geschwinde Noten bestimmt ist, und die lange Note einen kleinen Ruhepunkt ausmacht"
5. "In solchen Fällen, wo in der Ordnung nothwendig der Goldfinger zu folgen hat, nach welchem, streng nach der Regel, eigentlich der Zeigfinger spielen soll, tritt statt des Zeigfingers der Mittelfinger zum Wechsel auf jene Saite über, wenn der darauf folgende Ton wieder auf eine tiefere Saite fällt",
6. "wo der Mittelfinger wegen Erhaltung der Ordnung, auf einer ihm sonst nicht zugehörigen Saite den Anschlag verrichten muß" (ebd. S. 8f.; vgl. Giuliani 1812, S. 29).
Für das Intervallspiel gab es einen eigenen Fingersatz. Welche Anschlagfinger verwendet wurden, hing davon ab, ob die Töne eines Intervalls nahe beieinander oder weit auseinander lagen, ob sie gleichzeitig oder sukzessive nacheinander gespielt wurden. Francesco Bathioli teilte die Intervalle in "harmonische" und "melodische Intervalle" ein: "Harmonisch sind sie, wenn die 2 Töne zugleich vorzutragen sind; sie sind melodisch, wenn sie nicht zugleich, sondern nach einander erscheinen" (Bathioli 1825 II/1, S. 11). Zu den harmonischen Intervallen zählte er nur die Terzen, Sexten, Oktaven und Dezimen.
Die parallelen Terzen wurden auf den Basssaiten mit dem Daumen und Zeigefinger, auf den Diskantsaiten mit dem Zeige- und Mittelfinger oder mit Mittel- und Ringfinger angeschlagen. Exemplarisch sei hier aus den Gitarrenschulen von Bergmann und Staehlin zitiert: "Was das Anschlagen der Intervalle mit der rechten Hand - in sofern sie als Melodie vorkommen - betrift, so ist davon zu merken, daß z. B. Terzen mit dem zweyten [= Zeigefinger] und dritten Finger angeschlagen werden (...). Kommen die eben erwehnten Intervalle aber als Begleitung vor, so kann man die Terzen mit dem dritten und vierten sc. Finger anschlagen" (Bergmann 1802, S. 37; vgl. N. N. 1802, S. 11; Lehmann 1820, S. 11). "Der Anschlag kann auf den tieferen Saiten durch den Daumen und Zeigefinger oder dem Zeige und Mittelfinger, auf den höheren durch den Mittel und Goldfinger geschehen" (Staehlin 1811, S. 16). Marescot stellte die Regel auf, die Terzen auf den Basssaiten mit Daumen und Zeigefinger, auf den Diskantsaiten mit Zeige- und Mittelfinger zu zupfen (vgl. Marescot 1825 II, S. 26).
Für Aguado waren klangliche Überlegungen bei der Wahl des Fingersatzes relevant. Ob er Terzen mit dem Daumen und Zeigefinger oder mit dem Zeige- und Mittelfinger spielte, hing davon ab, welche Wirkung er erzielen wollte. Der Wechsel des Fingersatzes bewirkte eine "andere Wirkung in der Qualität des Tones" (Aguado 1843, § 133 übers.; vgl. ebd. § 255; Bruni 1834, S. 19). Mertz hingegen bevorzugte einen einheitlichen Anschlag mit Daumen und Zeigefinger auf allen Saiten (Mertz 1848, S. 10; Kirkman 1842, S. 3).
Für gebrochene Terzen verwendete Carulli den Fingersatz p - i oder i - p auf den Basssaiten und i - m und m - i auf den Diskantsaiten (Carulli 1839, S. 7). Giuliani hingegen schlug die gebrochenen Terzen einheitlich mit Daumen und Zeigefinger an (Giuliani 1812, S. 13).
Parallele Sexten, Oktaven und Dezimen wurden wegen des größeren Tonabstandes meist mit dem Daumen und Mittelfinger oder dem Zeige- und Ringfinger angeschlagen. Dieser Fingersatz findet sich beispielsweise in den Gitarrenschulen von Bergmann und Lehmann: "Sexten, Septimen, Oktaven, und dergl. schlägt man mit dem Daumen und dritten [= Mittelfinger] oder vierten Finger an" (Bergmann 1802, S. 37; vgl. N. N. 1802, S. 11; Staehlin 1811, S. 17; Molino 1813, S. 14). "... mit der rechten [Hand] aber spielt man sie am besten mit einerlei Fingern z. B. Sextengänge ... mit dem ersten und dritten Finger" (Lehmann 1820, S. 11). Wenn sie vom Bass begleitet wurden, konnten Sexten aber auch mit Zeige- und Mittelfinger oder Zeige- und Ringfinger gespielt werden, wie Giuliani an einem Beispiel zeigte (vgl. Giuliani 1812, S. 30). Marescot stellte die Regel auf, parallele Sexten und Dezimen mit Daumen und Mittelfinger zu zupfen und, wenn sie vom Bass begleitet werden, mit Zeige- und Ringfinger (Marescot 1825 II, S. 26).
Dagegen wurden gebrochene Intervalle fast ausschließlich mit Daumen und Zeigefinger angeschlagen. Entscheidenden Einfluss auf die Anschlagstechnik hatten Giuliani und Carulli (vgl. Carulli 1839, S. 7). Giuliani widmete den gesamten zweiten Teil seiner Gitarrenschule den Terzen-, Sexten-, Oktaven- und Dezimensprüngen: "In allen diesen Beispielen des Zweiten Theiles werden die tiefen Noten ... mit dem Daumen, die übrigen Noten aber mit dem Zeigefinger der rechten Hand angeschlagen" (Giuliani 1812, S. 13). Diese Anschlagstechnik wurde von den meisten Gitarristen übernommen (Bathioli 1825 II/1, S. 17; Seegner 1828, S. 14; Pelzer 1835, S. 40; Kirkman 1842, S. 3; Aguado 1843, §§ 80.269.283; Bornhardt 1850, S. 5). Es gab aber auch Gitarristen wie Carcassi, die wegen des größeren Tonabstands den Mittelfinger anstelle des Zeigefingers benutzten (Carcassi 1836, S. 36f.; Plouvier 1836, S. 10). Marescot stellte diesbezüglich eine klare Regel auf, nach der der Mittelfinger erst dann eingesetzt wird, wenn der Abstand zwischen zwei Saiten mehr als eine Saite beträgt (vgl. Marescot 1825 II, S. 24).
Angesichts der Vielfalt der beim Intervallspiel verwendeten Fingersätze wies Staehlin auf deren wesentliche Funktion hin: "Die Hauptsache bleibt immer, dass der Anschlag deutlich, und der Fingersatz auch auf das geschwindeste Zeitmaas anwendbar bleibe, und daß der Spielende bey der einmal als die bequemste für seine Hand befundenen Verfahrungsart beharre" (Staehlin 1811, S. 18).
Matteo Carcassi beschreibt in seiner "Vollständige[n] Guitareschule" (1835) einen besonderen Klangeffekt, der durch die Verwendung des Tones einer leeren Saite als Orgelpunkt bei der Ausführung von Doppelgriffen erzielt werden kann: "Bei Terzen- Sexten- und Dezimenfolgen wird öfters eine begleitende auf einer einzigen fortlaufenden Note beruhende Stimme eingeschoben um eine besondere Wirkung auf der Guitare hervorzubringen, doch nur bei Noten die auf eine leere Saite fallen, wenn auch die übrigen höher zu liegen kommen; in diesem letzteren Falle werden sie auf tieferen Saiten als die leere gegriffen" (Carcassi 1836, S. 58).
Akkorde wurden in der Zeit um 1800 in zwei Klassen eingeteilt: in geschlossene und gebrochene Akkorde. Ihnen entsprachen zwei Anschlagsarten: der gleichzeitige und der ungleichzeitige Anschlag. Zwei Zitate aus den Gitarrenschulen von Bergmann und Gatayes sollen dies verdeutlichen: "Die Akkorde kommen entweder so vor, daß alle Töne, woraus sie bestehen, zusammen angeschlagen, oder gebrochen werden" (Bergmann 1802, S. 35). "Unter den vielen Arten des Anschlagens die man auf der Guitarre anbringen kann, führen 2 eine bestimmte Benennung: der gleich- und der ungleichzeitige umgekehrte Anschlag, beide werden inzwischen leicht mit dem andern verwechselt, und es giebt keine Regel wie man sie vorzugsweise für die andern gebrauchen soll: der Geschmack allein entscheidet dieses" (Gatayes 1803, S. 10). Die gebrochenen Akkorde wurden in aufwärts, abwärts und verändert gebrochene Akkorde eingeteilt, wie Bergmann ausführte: "Bey den gebrochenen Akkorden ist noch zu merken, daß bald der tiefere, bald der höhere, oder auch ein mittlerer Ton, zuerst angeschlagen wird" (Bergmann 1802, S. 35).
In den 1820er Jahren differenzierte sich die Akkordlehre weiter aus. Francesco Bathioli unterschied begrifflich zwischen gebrochenen Akkorden und Arpeggien. Dementsprechend teilte er die Akkorde in drei Klassen ein: "Die Accorde erscheinen in dreierlei Gestalt, entweder voll, gebrochen oder im Arpeggio. Voll heißt ein Accord, wenn alle dazu gehörigen Töne zugleich, oder vereinigt angegeben werden, und in Noten gerade senkrecht unter einander stehend gesetzt sind. Gebrochen hingegen nennt man jene Accorde, wo die Intervalle derselben einzeln auf einander folgend gespielt, und auch in Noten so geschrieben werden. Wenn endlich die Intervalle gebrochener Accorde dergestalt in Absätzen auf einander folgen, daß auf einen Taktstreich mehrere Töne des Accordes kommen, so nennt man diese Figur insbesondere Arpeggio, welches auf der Guitare vom häufigsten Gebrauche ist" (Bathioli 1825 I/1, S. 30f.). Nach Bathiolis Definition sind Arpeggien gebrochene Akkorde mit kleinen Notenwerten.
Prudent Louis Aubéry du Boulley ging diese Differenzierung nicht weit genug. Er wies darauf hin, dass Akkorde nicht nur gezupft, sondern auch mit dem Daumen gestrichen werden können: "Bisher haben die Methoden nur zwei Arten von Akkorden angegeben: den geschlossenen Akkord (l’accord plaqué) und den gebrochenen Akkord (l’accord arpégé). Der geschlossene Akkord ... muss mit allen vier Fingern gleichzeitig gezupft werden. (...) Der arpeggierte Akkord ... wird ausgeführt, indem man die verschiedenen Töne des Akkords nacheinander und schnell erklingen lässt. Neben diesen beiden Akkorden gibt es noch drei weitere, die ich in meinen Werken verwende. Der erste ... wird gebildet, indem man den Daumen über alle Saiten gleiten lässt. Der zweite ... wird ausgeführt, indem man den Daumen über alle Saiten gleiten lässt, außer über die Chanterelle, die mit dem Zeigefinger gezupft werden muss. Der dritte Akkord ... wird ausgeführt, indem der Zeigefinger über alle Saiten zurückgezogen wird, außer über die Basssaite, die mit dem Daumen gezupft werden muss. Die letzten drei Akkorde sollten nur sehr selten verwendet werden, sie können aber in gewissen Passagen sehr vorteilhaft eingesetzt werden, um Effekte zu erzielen" (Aubery du Boulley 1828, S. 6 übers.). Der Daumenstrich wurde, wie die folgenden Beispiele aus Aubery du Boulleys Méthode Complette et Extrêmement simplifiée pour la Guitare (1828) zeigen, durch eine senkrechte Schlangenlinie vor dem Akkord gekennzeichnet:
Dionisio Aguado fasste auch das begleitete Melodiespiel unter dem Oberbegriff "Akkorde" zusammen. Dementsprechend teilte er die Akkorde in vier Gruppen ein: "1. simultane Akkorde im eigentlichen Sinne; 2. Arpeggio-Akkorde; 3. Akkorde mit Singstimme, und 4. sukzessive Akkorde" (Aguado 1825, § 271 übers.). Im Folgenden wird auf jeden Akkordtyp einzeln eingegangen.
Für geschlossene Akkorde wurde in der Regel der Fingersatz verwendet, den Bergmann in seiner Kurze[n] Anweisung zum Guitarrspielen (1802) festgelegt hatte: "Bey einem vierstimmigen Akkord schlägt der Daumen den tiefern Ton an; der zweyte, dritte und vierte Finger, ist für die drey übrigen bestimmt. (...) Ist der Akkord fünfstimmig, so schlägt der Daumen der rechten Hand, die untern zwey Töne, welche mit einer Klammer zusammen gezogen sind, nacheinander an, und dann folgen die übrigen Finger nach. Bey einem sechsstimmigen Akkord schlägt man die drey untern Töne mit dem Daumen an (...). Hieraus folgt, daß der Daumen nicht nur einen, sondern zwey auch drey Töne nach einander anschlagen muß" (Bergmann 1802, S. 35f.). Bergmanns Formulierung legt nahe, dass zumindest fünf- und sechsstimmige Akkorde leicht arpeggiert gespielt werden sollten. Carulli drückte sich diesbezüglich deutlicher aus: "Wenn also ein Akkord aus vier Noten besteht, muss man ihn mit vier Fingern zupfen, aber mit großer Geschwindigkeit, so dass es aussieht, als ob die Noten fast zusammen gezupft worden wären. Wenn der Akkord aus fünf Noten besteht, soll man den Daumen über zwei Saiten gleiten lassen und die anderen drei Saiten mit den anderen drei Fingern [zupfen], und wenn er aus sechs Noten besteht, soll man den Daumen über drei Saiten gleiten lassen und die anderen drei Saiten mit den anderen drei Fingern [zupfen]“ (Carulli 1819, S. 8 übers.).
Das schnelle Arpeggieren geschlossener Akkorde war im frühen 19. Jahrhundert gängige Praxis (vgl. Molino 1814, S. 19f.; Molino 1823, S. 20; Bathioli 1825 I/1, S. 36f.; Bruni 1834, S. 10; Hamilton 1834, S. 4; Carcassi 1836, S. 13; Nadaud 1841, S. 3). Vor allem lang ausgehaltene Akkorde wurden arpeggiert gespielt, wie Francesco Molino bestätigt: "Auch wo das eben erwähnte Zeichen nicht steht, muss man doch jeden Accord, der aus langgehaltenen Noten besteht, besonders im Adagio, auf die eben angezeigte Art anschlagen, indem man nemlich die Saiten nach einander rührt; (wobei man sich nur vor Uebertreibungen hüten muss, die gegen den guten Geschmack sind.) Durch dieses Mittel wird die Harmonie fortklingen und man wird jenen Ausdruck leichter hervorbringen, den geschickte Meister in ähnlichen Fällen der Harfe oder dem Fortepiano zu geben wissen. Siehe Beispiel No. 7. (Doch diese Regel gilt nicht in allen Fällen.)" (Molino 1813, S. 11; vgl. Doisy 1801, S. 49; Joly 1819, S. 17; Bruni 1834, S. 10).
Matteo Carcassi passte die Geschwindigkeit, mit der er die Arpeggien spielte, dem Tempo eines Stückes an: "Die Accorde werden jederzeit etwas weniges gebrochen oder auf Harfenart vorgetragen, nämlich eine Saite nach der anderen, doch schnell genug damit sie die nämliche Wirkung hervorbringen als seien sie gleichzeitig angeschlagen worden. Bei langsamer Taktbewegung, werden die Accorde weniger schnell als gewöhnlich vorgetragen" (Carcassi 1836, S. 13f.).
Eine ganz besondere Methode, den Ton des angeschlagenen Akkords zu verlängern, stellte Molino in seiner Grande Methode Complete pour Guitare ou Lyre (1823) vor. Er benutzte einen Tisch als Resonanzkörper: „Um diesen Effekt zu erzielen, muss man einen gut geformten Tisch vor sich haben, der hoch ist, dass, wenn man die Gitarre in einer bequemen Position hält, die Kante des Tisches mit dem Steg übereinstimmt, über den die Saiten laufen. Die Gitarre wird so nah an den Tisch herangeführt, dass der Steg die Kante berührt. Kaum hat man die Saiten gezupft, zieht man das Instrument so weit zurück, dass es die Tischkante nicht mehr berührt. Auf diese Weise hört man die Wirkung des verlängerten Tones. Dieses Mittel kann man in Adagios verwenden, in denen es viele harmonische Akkorde gibt, wie im folgenden Stück. Die Akkorde, die zur Verlängerung des Tons gesetzt werden müssen, werden durch eine kleine Linie markiert, die durch diese Akkorde verläuft“ (Molino 1823, S. 116 übers.).
Einige Gitarristen sprachen sich gegen das Arpeggieren geschlossener Akkorde aus. Sie forderten, geschlossene Akkorde aus Gründen der Stimmführung gleichzeitig zu spielen. Zu ihnen gehörte Simon
Molitor: "Wenn fünf Noten unter verschiedener Bewegung zugleich
zusammentreffen, die nicht mit dem Daum ausgestreift werden können, so kann man ... den Akkord, um ihn mit mehr Präzision hervorzubringen, mit Hilfe des kleinen Fingers, nemlich mit allen fünf
Fingern zugleich anschlagen" (Molitor 1806, S. 19; vgl. Bathioli 1825 I/1, S. 37). Auch Johann Jakob Staehlin gehörte zu den Befürwortern des simultanen
Anschlags: "Vier und mehrstimmige Accorde werden wenn die Noten übereinander stehen gleichzeitig angeschlagen" (Staehlin
1811, S. 19). Seine spieltechnische Beschreibung des Anschlags entsprach jedoch den Ausführungen in Carullis Gitarrenschule, so dass davon auszugehen ist, dass er fünf- und sechsstimmige Akkorde
leicht arpeggiert spielte (vgl. ebd. S. 7). František Max Kníže sprach sich ebenfallls für den gleichzeitigen Anschlag aus: "der ganze Accord muss nur ein Schlag seyn"
(Kníže 1820, S. 23). Nach den Notenbeispielen zu urteilen, bezog sich seine
Aussage jedoch nur auf vierstimmige Akkorde.
Die Befürworter des Simultananschlags waren bis in die 1830er Jahre hinein deutlich in der Minderheit. Nur so lässt sich die Vehemenz erklären, mit der Aguado und Sor in Paris für den Simultananschlag warben. Aguado stellte in seiner Méthode Complète pour la Guitare (1826) unmissverständlich klar, dass die Töne eines geschlossenen Akkords absolut gleichzeitig angeschlagen werden müssen: "Wenn die Noten eines Akkords alle den gleichen Wert haben und zur gleichen Zeit erklingen sollen, ist die Gleichzeitigkeit absolut: Das nenne ich simultane Akkorde" (Aguado 1826b, § 272 übers.). "Die Finger zupfen alle Noten des Akkords zur gleichen Zeit, mit gleicher Kraft" (ebd. § 273). Der Übersetzer seiner Gitarrenschule, François de Fossa, sah sich genötigt, diese in Paris unbekannte Form des Akkordanschlags, näher zu erläutern: "In Frankreich, Deutschland und Italien ist es üblich, diese Art von Akkord so zu spielen, dass alle Noten, aus denen er besteht, nacheinander, aber mit großer Geschwindigkeit, von tief nach hoch erklingen. Herr Aguado, der in Akkorden immer so viele Instrumente sieht, wie es Noten gibt, verlangt absolute Gleichzeitigkeit bei der Ausführung, wie er sie in einem Trio, in einem Quartett, in einem Orchester hören würde, wo jede Note von einem anderen Instrument gespielt wird" (Aguado 1826b, § 272 Anm. übers.).
Für Aguado war die Gitarre ein Orchester im Kleinen. Deshalb mussten seiner Meinung nach alle Töne eines Akkordes gleichzeitig erklingen, wie die Orchesterstimmen in einem Tutti. Sein Landsmann Sor vertrat die gleiche Auffassung: "Jede Begleitung setzt zuvörderst einen Bass und wenigstens zwei Harmoniestimmen voraus: sie stellt also wenigstens drei Instrumente dar; mithin müssen die verschiedenen Anstimmungen, welche das, was man gemeinhin voller Schlag auf der Guitarre nennt, ausmachen, nicht als der Ausdruck des Spiels eines Einzelnen betrachtet werden" (Sor 1831, S. 51). Bei der Akzentuierung der einzelnen Akkordstimmen orientierte sich Sor am imaginierten Orchesterklang: "Aus diesem Grunde allein gab ich mir viel Mühe, den Bass immer so anzuschlagen, wie ich es von einem Orchester verlange, das mich begleitet, und den Harmoniestimmen den Grad von Stärke zu geben, den ich von den Violinen verlange, und keinen höhern" (ebd. S. 52).
Aguado hingegen war der Meinung, dass alle Töne eines Akkordes gleich laut klingen sollten. Daher empfahl er, bei Akkorden den schwachen Zeigefinger mit mehr Kraft einzusetzen (Aguado 1843, §§ 87.209) und den starken Daumen mit weniger Kraft einzusetzen (ebd. § 116). Diese Auffassung stand allerdings in einem gewissen Widerspruch zu der Vorstellung, dass die Gitarre ein ganzes Orchester imitieren sollte: "Nachdem wir das Wesen der Gitarre untersucht haben, scheint es, dass die Musikgattung, die ihre Besonderheit ausmacht, diejenige ist, in der sie ziemlich genau, wenn auch im Kleinen, die Wirkungen des Orchesters nachahmt, das heißt die Kühnheit der Violinen in den Läufen und schnellen Passagen, die Ernsthaftigkeit und Festigkeit der Bässe und die exakte fortschreitende Anstrengung des Tutti" (Aguado 1849, S. 7 übers.).
Üblicherweise wurden Akkorde nur mit Daumen, Zeige-, Mittel- und Ringfinger angeschlagen. Der kleine Finger diente als Stützfinger. Einige Gitarristen machten jedoch Ausnahmen. Simon Molitor schlug fünfstimmige Akkorde auch mit dem kleinen Finger an, wenn es der Klarheit der Stimmführung diente: "Wenn fünf Noten unter verschiedener Bewegung zugleich zusammentreffen, ... so kann man ... den Akkord, um ihn mit mehr Präzision hervorzubringen, mit Hilfe des kleinen Fingers, nemlich mit allen fünf Fingern zugleich anschlagen" (Molitor 1806, S. 19; vgl. Staehlin 1811, S. 7; Gräffer 1811, S. 9). Francesco Bathioli erlaubte den Gebrauch des fünften Fingers bei fünfstimmigen Akkorden, "wenn eine Saite inzwischen nicht berührt werden darf" (Bathioli 1825 I/1, S. 37). Und Adolphe Ledhuy, der die Stützfingertechnik ablehnte, benutzte den kleinen Finger als gewöhnlichen Anschlagfinger (Ledhuy 1828, S. 7).
Im Gegensatz zu den meisten seiner Zeitgenossen benutzte Fernando Sor nur den Daumen, Zeige- und Mittelfinger als Anschlagfinger, da diese Finger "eine gerade Linie" bildeten, die parallel zur "Ebene der Saiten" verlief (Sor 1831, S. 9). So konnte er die Finger beim Anschlagen der Saiten gerade halten. Mit dem Ringfinger wäre dies nicht möglich gewesen, da Zeige- und Mittelfinger "sich krümmen müssten, um die Linie E F nicht zu überschreiten" (ebd.; vgl. S. 13). Der Ringfinger wurde nur in Ausnahmefällen benutzt, z. B. wenn bei vierstimmigen Akkorden eine Zwischensaite zwischen dem Daumen und den übrigen Fingern lag.
Mit dem Zeige- und Mittelfinger schlug Sor die beiden höchsten Saiten an, mit dem Daumen die übrigen vier Saiten: "hiernach halte ich die Hand so hoch, dass der Daumen vier Saiten durchlaufen kann, und die zwei Finger den beiden andern gegenüber, so dass ich, ohne die Hand zu verrücken, die Saiten finden kann" (ebd. S. 23). Den Ringfinger setzte er nur bei vierstimmigen Akkorden ein und das auch nur dann, wenn zwischen Daumen und Zeigefinger eine Saite frei blieb: "Ich nahm daher als Regel meines Fingersatzes für die rechte an, gewöhnlich nur die drei Finger, welche die Linie A B berührt, zu gebrauchen und den vierten nur, um einen Accord zu vier Stimmen hervorzubringen, von welchen die letzte, die dem Bass am nächsten liegt, eine Saite frei lassen wird" (ebd. S. 10; vgl. S. 46).
Ferdinando Carulli wandte eine ähnliche Technik an. Im Gegensatz zu Sor verwendete er bei vier- bis sechsstimmigen Akkorden grundsätzlich immer den Ringfinger (Carulli 1819, S. 8f.29f.). Luigi Legnani hingegen benutzte nur Daumen, Zeige- und Mittelfinger als Anschlagfinger. Die beiden anderen Finger verwendete er als Stützfinger: "Der Ohrfinger sollte auf den Steg gelegt werden, der Ringfinger über die Resonanzdecke, und während Daumen, Zeigefinger und Mittelfinger die Saiten in Schwingung versetzen, sollten Ringfinger und Ohrfinger je nach Bedarf auf natürliche Weise gehoben und gesenkt werden" (Legnani 1847, S. 2 übers.).
Die gebrochenen Akkorde wurden nicht gleichzeitig angeschlagen, sondern in Harfenmanier (ital. arpeggio) gespielt. Das heißt, sie wurden in ihre Einzeltöne zerlegt und nacheinander angeschlagen. Zerlegte Akkorde wurden daher auch Arpeggien oder französisch batteries genannt. Spanische, italienische und französische Gitarristen verwendeten sie bereits in der Mitte des 18. Jahrhunderts in Paris für Preludien und Liedbegleitungen auf der fünfchörigen Gitarre (vgl. Don *** 1758, S. 8-11; Merchi 1761, S. 1; Baillon 1780, S. 11-13). In Spanien führte Federico Moretti die Liedbegleitung im "hochmodernen Stil" ein, wie es im Prolog seines pädagogischen Hauptwerks Principios para tocar la Guitarra de seis ordenes (1799) heißt. Um 1800 wurde diese Spieltechnik von Jean-Baptiste Phillis, François Doisy und Heinrich Christian Bergmann auf die sechssaitige Gitarre übertragen. Die Akkordzerlegungen konnten auf- oder abwärts gerichtet sein oder Auf- und Abwärtsbewegungen miteinander verbinden (Bergmann 1802, S. 37.40.43).
Für gebrochene Akkorde galt weitgehend der gleiche Fingersatz wie für geschlossene Akkorde. Beim Arpeggieren waren jedoch einige Besonderheiten zu beachten: Bei aufsteigenden fünf- oder sechsstimmigen Akkordbrechungen wurden die Basstöne mit dem Daumen gebunden, bei absteigenden mit dem Zeigefinger. Doisy stellte diese Legatotechnik in seiner Gitarrenschule vor: "Einige Arpeggien können ohne den Daumen und die drei folgenden Finger gar nicht geschwind gemacht werden; nämlich die von vier und sechs Noten: vorzüglich sobald man über eine Saite, ohne sie zu berühren, springen muss. Diese Arpeggien werden mit dem Daumen und den drei Fingern gemacht, indem man die ersten und letzten zwei Noten, wie aus dem Ligaturzeichen zu ersehen ist, ligiret. Sie können auch dem Daumen und den zwei nächsten Fingern gemacht werden; dann ligirt man aber drei Noten" (Doisy 1802, S. 6f.; vgl. Phillis 1799, S. 27; Scheidler 1803, S. 7). Staehlin beschrieb es noch etwas genauer: "Bey dergleichen Accorden welche Accorde von 5 Tönen enthalten, werden bey dem Anschlage heraufwärts die durch einen Bogen verbundenen 2 Noten durch den Daumen angeschlagen, indem man denselben von der einen Saite auf die andere gleiten läßt. Herunterwärts geschieht dieses durch den Zeigefinger bey den ebenso bezeichneten 2 Noten. Enthält der Accord 6 Töne so ist das Verfahren das nemliche bey denen durch einen Bogen verbundenen 3 Noten" (Staehlin 1811, S. 27; vgl. Bornhardt 1815, S. 5; Carpentras 1824, S. 6; Lehmann 1820, S. 10; Carcassi 1836, S. 16).
Nach Doisy mussten auch Bassnoten, die auf den Diskantsaiten lagen, mit dem Daumen angeschlagen werden: "Die Bassnoten, womit die Arpeggien gewöhnlich anfangen, müssen mit dem Daumen angeschlagen werden, weil er dieselben mehr herausheben kann. Daraus folget nun dass der Daumen nicht nur die a, d, und g-Saite anschlagen muss. S[iehe] B[eispiel] A; welches meistentheils geschiehet, weil sie statt des Basses dienen: sondern er muss auch die h- und e-Saiten anschlagen; B[eispiel] B., wenn der Bass bis dahin gehet" (Doisy 1802, S. 5f.).
Viele Gitarrenschulen legten bis in die 1820er Jahre den didaktischen Schwerpunkt auf das Arpeggiospiel. François Doisy betonte die Bedeutung des Arpeggios für das Gitarrenspiel: "Das Arpeggiren ist von der Guitarre unzertrennlich. Denn da man derselben nur mit vieler Mühe anhaltende Töne abzwingen kann, so ist man bei langsamen Begleitungen gezwungen, alle Noten des Accordes zu arpeggiren, um das Trockene zu vermeiden" (Doisy 1802, S. 5). Arpeggien waren in der Gitarrenmusik allgegenwärtig. Sie wurden vor allem in Präludien, modulierenden Übergängen zwischen zwei Stücken und in der Liedbegleitung verwendet: Präludien waren improvisierte Musikstücke mit einleitender Funktion. Sie wurden Instrumentalstücken vorangestellt und bestanden oft aus effektvollen Akkordzerlegungen und virtuosen Läufen. Um Präludien improvisieren zu können, musste man über ein großes Repertoire an Zerlegungsmustern verfügen, mit denen man Akkorde variieren konnte. Doisy schrieb dazu: "Im Präludiren ist für die Guitarre vorzüglich die beste Gelegenheit schöne Gänge zu machen. Hier folgen, als Beispiele, einige Accorde, die man nach Willkühr arpeggiren kann, und woraus es möglich ist, kleine Preludia in den gebräuchlichsten Tönen zu machen" (Doisy 1802, S. 60; vgl. Molino 1813, S. 35; Kirkman 1842, S. 12f.). Auch von einem Begleitspieler wurde erwartet, dass er die Akkordzerlegungen eigenständig variierte und dem Charakter des jeweiligen Liedes anpasste.
Als Hilfestellung für Gitarrenamateure stellte Doisy in seiner Gitarrenschule 30 verschiedene Arpeggien vor, "die hinlänglich sind, alle übrigen zu erlernen" (Doisy 1802, S. 7). Mauro Giuliani ging noch einen Schritt weiter. Er ließ in seiner Gitarrenschule 120 Arpeggien mit den entsprechenden Fingersätzen abdrucken, um einen Überblick über alle Zerlegungsmuster zu geben. Die Arpeggien dienten als technische Übung und als tägliches Fingertraining. Übertroffen wurde er jedoch von seinem Landsmann Federico Moretti, der in seiner Schule 201 Arpeggioformeln aufstellte, einige Arpeggien aber mit gleitenden Fingerbewegungen ausführte. Vergleichbare Ansätze finden sich auch in mehreren französischen Gitarrenschulen. Antoine Marcel Lemoine stellte in seiner Gitarrenschule 80 Zerlegungsschemata vor (Lemoine 1807a, S. 7f.). Francesco Molino stellte in seiner Nouvelle Méthode pour la Guitare (1813) ein Thema mit 36 Arpeggio-Variationen und in seiner Grande Methode Complete (1823) ein Thema mit 50 Arpeggio-Variationen vor (Molino 1813, S. 14-27; ders. 1823, S. 94-115) vor. Prosper Bigot entwarf vier Zerlegungsübungen mit jeweils 30 Arpeggioformeln (Bigot 1824, S. 7-19). Und Louis-Ange Carpentras komponierte 58 Variationen mit Akkordzerlegungen über die Melodie Au Clair de la Lune (Carpentras 1824, S. 7-35).
Die Gitarrenschulen vermittelten das Arpeggiospiel fast ausschließlich durch spieltechnische Übungen. Eine Ausnahme bildete die Gemeinnützige Guitareschule (1825) von Francesco Bathioli. Hier wurden die für alle Akkordzerlegungen gültigen Fingersätze in zwölf Regeln zusammengefasst:
"1tens Die Baßtöne werden durchaus ohne Rücksicht auf Saiten mit dem Daumen gespielt; die andern höhern Stimmen aber werden, ebenfalls wieder ganz ohne Rücksicht auf Saiten, wenn es ihrer nicht mehr, als zwei sind, stets nur mit dem Zeig- und Mittelfinger; wenn es aber ihrer drei sind, mit dem Zeig-, Mittel- und Goldfinger ausgeführt.
Ausnahme. Wenn ein fünf- oder sechsstimmiger Accord dergestalt im Arpeggio erscheint, daß die Saiten von unten hinauf, oder von oben herab nach der Reihe anzuspielen sind, so muß von unten hinauf der Daumen außer den ihm zugehörigen Baße auch noch die folgende, oder die zwei folgenden Saiten, wie bei den vollen 5 oder 6stimmigen Accorden, nehmen, und die 3 Finger schnellen die 3 Diskantsaiten aus; von oben herab aber muß der Zeigefinger außer der ihm zukommenden 4ten Saite G auch noch die folgende, oder die folgenden Baßsaiten streifen, so, daß der Daumen nur wieder seinen Baß nimmt.
2tens Die erst erwähnte Ausnahme abgerechnet, darf weder der Daumen, noch einer der drei Finger zwei verschiedene Saiten unmittelbar nacheinander auf sich nehmen. (...)
3tens Wenn bei gewissen Arpeggien eine Saite zweimal nacheinander anzuspielen ist, so darf dieß niemals nur Ein Finger thun, sondern es müssen dazu zwei Finger wechselweise gebraucht werden (...).
4tens Wenn auf einer höhern Saite ein Ton mehrere Male nach einander zu spielen ist, während bloß der Baß mehrere Intervalle der Harmonie durchgeht, so wird die höhere Saite wechselweise mit dem Zeig- und Mittelfinger gespielt, die Baßtöne aber werden durchaus mit dem Daumen genommen.
5tens Wenn zwar ein Ton mehrere Male auf einer höhern Saite vorkommt, aber öfters zugleich 2 oder 3 Töne mitzuspielen sind, oder dieselben langsam fortschreiten, so werden solche hinter einander folgende Töne nur mit Einem Finger vorgetragen.
6tens Wenn eine höhere Saite mehrere Male nach einander schnell gespielt werden muß, ohne daß zugleich ein Baß zu nehmen ist, so braucht man dabei den Daumen, Zeig- und Mittelfinger auf folgende Weise: [p - i - m - i].
7tens Wenn eine und dieselbe Saite mehrere Male nach einander zu spielen ist, wo aber jedesmal auch zugleich ein Baßton mitgenommen werden muß, so verrichtet den Anschlag der höhern Saite nur Ein Finger, und die Baßtöne auf den Baßsaiten werden mit dem Daumen, jene auf den höhern Saiten mit dem Zeigefinger, oder es werden, wenn die Noten von langsamer Gattung sind, wohl auch alle Baßtöne mit dem Daumen allein genommen.
8tens Wenn ein Baßton 2, 3 oder mehrere Male nach einander auf der nämlichen Saite ohne Begleitung einer höhern Stimme zu spielen ist, so braucht man wechselweise den Daumen und Zeigefinger.
9tens Wenn ein und derselbe Baßton mehrere Male nacheinander anzuspielen ist, während aber auch höhere Saiten angeschlagen werden müssen, so nimmt man in diesem Falle die Baßtöne mit dem Daumen allein, ohne nämlich den Anschlag derselben mit dem Zeigfinger wechselweise zu verrichten.
10tens Wenn bei dreistimmigen Accorden der Baß stufen- oder sprungweise auf- oder absteigend vorkommt, so wird er zwar, wenn das Tempo nicht geschwinde ist, meistens mit dem Daumen gespielt; allein, wenn er öfters von einer Saite zur andern hin und her schreitet, oder das Tempo schnell geht, so muß auch der Zeigfinger dabei aushelfen.
11tens Wenn die Accorde dergestalt im Arpeggio erscheinen, daß die obern Stimmen melodische Figuren bilden, welche durch drei tiefere Töne des Accordes zu accompagniren sind, so werden die obern melodischen Töne mit dem Mittel- und Goldfinger, die 3 tiefern accompagnirenden Töne aber mit dem Daumen und Zeigfinger ausgeführt, so, daß man die zwei tiefsten mit dem Daumen, den höchsten von den 3 begleitenden Tönen aber stets mit dem Zeigfinger spielt.
12tens Sind bei so gearteten Accorden die obern melodischen Töne nur mit zwei tiefern Tönen zu begleiten, so werden die ersten ebenfalls mit dem Mittel- und Goldfinger, und die letzten mit dem Daumen und Zeigfinger genommen, wenn man die 2 tiefen accompagnirenden Töne nicht etwa auf die 1. und 2. Saite fallen, in welchem Falle sie mit dem Daumen allein gespielt werden müssen, wodurch dann auch für die obern melodischen Töne der Zeigfinger verwendet werden kann und muß" (Bathioli 1825 I/1, S. 37-41).
Bei Akkordzerlegungen lag der Akzent meist auf dem starken Taktteil. In der Romantik konnte die Akzentuierung freier und unabhängiger vom Metrum gestaltet werden. So empfahl Aguado, bei aufeinanderfolgenden Akkordzerlegungen den Akzent von den betonten auf die unbetonten Taktteile zu verlagern, um eine Akkordfolge abwechslungsreicher zu gestalten (Aguado 1843, § 209).
Neben der Möglichkeit, Akkorde zu zupfen, gab es die Technik, Akkorde mit dem Daumen zu streichen. Da auch bei dieser Technik die Akkorde in ihre Einzeltöne zerlegt und nacheinander angeschlagen wurden, bezeichnete man diese Variante des Saitenanschlags ebenfalls als Arpeggio. Allerdings wurde das Arpeggio nicht in exakten Notenwerten notiert, sondern durch eine senkrechte Schlangenlinie vor dem Akkord oder einen Querstrich gekennzeichnet. So heißt es bei Doisy: "Die senkrechte und geschlängelte Linie, die manchmal vor und neben einem Akkord steht, zeigt an, dass die Noten dieses Akkords nicht gezupft, sondern schnell und anmutig geschlagen oder arpeggiert werden sollen, was einer Begleitung, deren Bewegung langsam ist, angemessen ist" (Doisy 1801, S. 49 übers.). Während in den französischen Gitarrenschulen die gestrichenen Akkorde als arpèges bezeichnet wurden, unterschieden die deutschsprachigen Gitarrenschulen begrifflich das Streichen oder Schlagen der Akkorde vom Arpeggieren.
Simon Molitor beispielsweise wendet die Streichtechnik gleich zu Beginn seiner Großen Sonate für die Guitarre allein (1806) am Ende des Vordersatzes an: "C. Die mit dem Querstrich bezeichneten Akkorde werden mit dem Daum ausgestreift" (Molitor 1806, S. 17). Gestrichen wurden vor allem fünf- und sechsstimmige Akkorde, wie in diesem Beispiel. Johann Jakob Staehlin führte dazu aus: "Was die rechte Hand in diesem Fall bey 5 oder 6 stimmigen Accorden die gewöhnlich alsdann mit einem Querstrich / oder einer Schlangenlinie | bezeichnet werden, zu beobachten hat stehet § 5. bemerkt" (Staehlin 1811, S. 19). "Dergleichen Accorde pflegt man gewöhnlich von der tiefsten Saite an bis zur höchsten mit dem Daumen auszustreiffen, wobey die übrigen 4 Finger an die Seite des Instruments angelegt werden" (ebd. S. 7). Staehlin empfahl jedoch, nur den kleinen Finger als Stützfinger zu verwenden: "Der kleine Finger kann recht füglich seinen ihm angewiesenen Platz behaupten, und braucht sich nur in dem Grade seitwärts auf die Decke zu legen ... als erforderlich ist, damit der Daumen die höchste Saite erreichen könne" (ebd.). Diese Anschlagstechnik blieb bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts in Gebrauch (vgl. N. N. 1806, S. 12; Gräffer 1811, S. 27; Rosquellas 1813, S. 10; Kníže 1820, S. 23; Joly 1819, S. 58f.; Carcassi 1836, S. 14).
Die Geschwindigkeit und der Klang des Anschlags wurden dem Charakter des jeweiligen Stückes angepasst. Carl Blum beispielsweise strich die Saiten nahe am Schallloch, um den harfenartigen Charakter der gestrichenen Akkorde zu betonen: "Ganze Accorde wobei kein schlängelndes Zeichen ... s[t]eht spiele man dicht an dem Stege besonders wenn sie kurz ohne Nachklang angeschlagen werden sollen. Man kann die Saiten besser attakiren und der Ton verliert sich. Dagegen spielt man die Accorde die die Vorzeichnung einer solchen Linie haben, oder deren Character sanft und gehoben sein soll, in mässiger Entfernung vom Schalloch, indem man schnell und rund jeden einzelnen Ton hören lässt" (Blum 1818, S. 10).
Akkorde konnten auch gestrichen werden, wenn im Notentext keine Vortragszeichen angegeben waren. So gehörte es zu den spieltechnischen Konventionen, fünf- oder sechsstimmige Akkorde am Ende eines Stückes nur mit dem Daumen zu spielen. Bergmann bemerkte dazu: "Akkorde, welche fünf- oder sechsstimmig sind, und beym Schluß eines Tonstücks vorkommen, bedürfen mit der rechten Hand keine eigene Fingersetzung, sondern können blos mit dem Daumen von unten bis zum obern Ton geschwind nach einander berührt werden" (Bergmann 1802, S. 37; vgl. N. N. 1802, S. 11).
Darüber hinaus konnte das Durchstreichen der Saiten mit dem Daumen ganz generell als Anschlagstechnik für fünf- oder sechsstimmige Akkorde verwendet werden. Johann Traugott Lehmann beispielsweise wandte diese Anschlagstechnik an: "Kommen in einem Akkorde nur drei oder vier Töne vor, so schlägt man die Saiten mit den im Kap. VII. §. 5. angegebenen Fingern (der rechten Hand) an. Sind hingegen fünf- oder sechsstimmige Akkorde, so streicht man sie mit dem Daum" (Lehmann 1820, S. 10). Auch Fernando Sor, der sich vehement für den Simultananschlag einsetzte, strich sechsstimmige Akkorde mit dem Daumen: "Manchmal sogar, wenn ich einen Accord greifen will, bei welchem alle sechs Saiten gebraucht werden, lasse ich den Daumen rasch über sie dahingleiten, wobei ich ihm eine mit dem Resonanzboden gleichlaufende Richtung zu geben suche, ohne welche ich Gefahr liefe die letzten nicht zu berühren, wenn ich die Richtung AB (fig.: 20) nähme; oder sie zu zwingen, dem Punkte X des Resonanzbodens EF zu nahe zu kommen, wodurch sie gegen die Griffe schnarren würde. In diesem Fall lasse ich die Stärke des Tons von dem Druck des Daumens gegen die Saiten abhangen" (Sor 1831, S. 15; vgl. Aguado 1825, § 366).
Diese Anschlagstechnik wurde jedoch auch als amateurhaft kritisiert. Carulli, Staehlin, Bathioli und Marescot lehnten sie als Standardtechnik ab. Sie zogen es vor, fünf- oder sechsstimmige Akkorde mit vier Fingern zu arpeggieren: "Viele Leute zupfen die Akkorde nur mit dem Daumen, indem sie ihn über alle Saiten streichen. Das gibt der Hand keine Anmut und macht den Akkord sehr trocken“ (Carulli 1819, S. 8 übers.). "Wäre es nicht besser von dieser Gewohnheit abzugehen indem man sich bemühte, blos die 2 oder 3 tieferen Saiten mit dem Daumen zu überstreifen, jede der drei höheren Saiten aber mit einem besonderen Finger, wie es ihre natürliche Folge mit sich bringt, anzuschlagen?" (Staehlin 1811, S. 7). "Das bloße Ausstreifen mit dem Daumen ist nicht zu empfehlen, man brauche es nur selten, und zu besondern Wirkungen" (Bathioli 1825 I/1, S. 37; vgl. Marescot 1825 I, S. 11).
Einige Gitarristen streiften die Saiten nicht mit dem Daumen, auch wenn eine geschlängelte Linie vor dem Akkord stand. Stattdessen benutzten sie mehrere Anschlagfinger und kombinierten Streich- und Zupftechniken. Francesco Molino zum Beispiel erklärte das Arpeggio-Zeichen folgendermaßen: "Wenn vor einem Accord eine kIeine krumme oder geschlängelte Linie gezeichnet ist, ... so werden die Noten nach einander angeschlagen, und auf diese Art kann man auch zwei Noten auf einer Saite nehmen, die man jedoch gut zusammenschleifen muss. Dies klingt sehr gut, wenn die Saiten recht gleich angeschlagen werden" (Molino 1813, S. 11; ders. 1817, S. 20; 1823, S. 11).
Auch Joly, Marescot und Plouvier arpeggierten die Akkorde mit mehreren Anschlagfingern: "Wenn neben einem Akkord eine geschlängelte Linie steht, bedeutet das, dass er als Arpeggio gespielt werden soll, aber dieses Arpeggio sollte sehr schnell sein und in gewisser Weise ein Rollen imitieren. Siehe Nr. 1
Wenn ein Akkord aus 5 Noten besteht, gleitet man mit dem Daumen über die erste und zweite Note des Akkords, und bei 6 Noten gleitet man über die ersten drei [Noten]. Siehe Nr. 2 und 3" (Joly 1819, S. 17 übers.; vgl. Plouvier 1816, S. 18; Strawinski 1846, S. 12). Für langsame Sätze galt diese Regel auch dann, wenn den Akkorden keine geschlängelten Linien vorangestellt waren. Bei Charles de Marescot heißt es: "In langsamen Sätzen werden die Akkorde immer auf diese Weise gezupft [= schnell arpeggiert], auch wenn ihnen keine gebrochenen Linien vorangehen: Das ist das beste Mittel, um die Harmonie zu unterstützen und den Ausdruck zu erzeugen, der geschickte Lehrer auszeichnet" (Marescot 1825 I, S. 10 übers.).
Marziano Bruno schließlich gab dem Arpeggio-Zeichen eine neue Bedeutung. Er verwendete die senkrechte Schlangenlinie als Zeichen für die Rasgueado-Technik, bei der die Saiten mit der Nagelseite angeschlagen werden: "This mark ∫ signifies that the chord is to be played by gently passing the nails over the six strings. This is done with the back of the Right hand, in the following manner: the fingers being closed against the thumb, and placed close above the sixth string, by the motion of opening them the nails strike every string in succession and the sound required is produced" (Bruni 1834, S. 73 Anm.).
Der Fingersatz für das begleitete Melodiespiel wurde in den ersten Gitarrenschulen, die um 1800 erschienen, nicht thematisiert. Dies hing unter anderem damit zusammen, dass in den frühen Gitarrenkompositionen Akkordfolgen und Melodielinien nur selten miteinander verwoben waren, so dass man mit den Fingersätzen, die für das Akkord- und Tonleiterspiel galten, gut auskam. Eine Ausnahme bildete der Alberti-Bass, eine gebrochene Art der Begleitung, die gleichzeitig mit dem Melodiespiel ausgeführt wurde. Dabei übernahmen Daumen und Zeigefinger die Bassbegleitung, Mittel- und Ringfinger das Melodiespiel. Ein früher Hinweis auf diese Technik findet sich bei Simon Molitor: "E. Die erste und dritte Bassnote werden bei derlei Arpeggien mit dem Daum, die 2te und 4te mit dem Zeigefinger, der darüberstehende Gesang aber mit den zwei übrigen Fingern angespielt" (Molitor 1806, S. 18). Die Melodiestimme musste gegenüber der Begleitung hervorgehoben werden: "Hauptsächlich aber muss man den darinn herrschenden Gesang immer so ausheben, dass er durch die begleitende Mittelstimme und Bass nicht unklar und verdunkelt werde" (Molitor 1806, S. 23; vgl. Bathioli 1825 I/1, S. 41).
Mauro Giuliani und Ferdinando Carulli hoben das begleitete Melodiespiel auf eine neue Stufe. Ein Autor der "Allgemeinen Musikalischen Zeitung" hob die Neuartigkeit von Giulianis Gitarrenspiel hervor: "Er gebraucht nämlich die Guitarre nicht nur durchaus als obligates, sondern auch als ein Instrument, auf welchem zu einer angenehmen, fliessenden Melodie, eine vollstimmige, regelmässig fortgeführte Harmonie vorgetragen wird" (AMZ 10/1808, Sp. 428). In die gleiche Richtung ging Carullis Empfehlung, den Daumen als zusätzlichen Greiffinger beim Gitarrenspiel zu verwenden: "Die Musik ist um so angenehmer, je reicher sie an Harmonie ist, und da vier Finger nicht ausreichen, um gleichzeitig eine Melodie und durchdachte Bässe in verschiedenen Tonarten zu spielen, muss man notwendigerweise den Daumen verwenden" (Carulli 1819, S. 4 übers.).
Giuliani und Carulli übertrugen die von ihnen aufgestellten Fingersätze für Tonleitern, Intervalle und Akkorde auf das begleitete Melodiespiel (Carulli 1819, S. 29f.). Francesco Bathioli versuchte, die Fingersätze für Singstimme und Begleitung in einer einfachen Regel zusammenzufassen: "Kommen hingegen Tonleitern, oder melodische Figuren überhaupt mit Begleitung eines Baßes oder einer zweiten Stimme überhaupt vor, so nimmt man über alle Saiten wechselweise den Zeig- und Mittelfinger; indem den Baß der Daumen spielt" (Bathioli 1825 II/1, S. 8).
Häufig bestand die Melodiebegleitung nicht nur aus einem einfachen Bass, sondern aus Bass und Mittelstimmen. So
konnten beispielsweise Melodiefiguren von Alberti-Bässen begleitet werden (Giuliani 1812, S. 11f.; vgl. Molino 1823, S. 21). Daumen, Zeigefinger und nicht selten auch der Mittelfinger waren dann
für die Begleitung zuständig.
Fernando Sor brachte das begleitete Melodiespiel noch einmal auf eine höhere Stufe. Für ihn war die Gitarre nicht nur Melodie- und Begleitinstrument in einem, sondern ein Orchester en miniature. Die Gitarre sollte die Stimmen eines ganzen Orchesters zum Klingen bringen. Entsprechend komplex sind die Stimmführungen in seinen Werken. Akkordfolgen und Melodielinien waren durchgängig ineinander verwoben.
Sor war sich der Besonderheit und Qualität seines Kompositionsstils bewusst und übte scharfe Kritik an der zeitgenössischen Gitarrenmusik. In seinem Vorwort zur "Fantaisie Elegiaque" (op. 59) warf er seinen Konkurrenten vor, brillante Orchesterwerke durch ihre Bearbeitungen für Gitarre zu verstümmeln: "Vergeblich werden einige Gitarristen Schwierigkeiten anhäufen, um den Pöbel zu blenden, indem sie ein schönes und erfolgreiches Stück, das für Orchester komponiert wurde, wie die Ouvertüre zu Wilhelm Tell, Semiramis etc., an sich reißen. Die Notwendigkeit, es der Harmonie in den Momenten zu berauben, in denen sie unbedingt notwendig ist, und sogar das Skelett zu verstümmeln, damit es die Reichweite ihrer Finger nicht überschreitet, die wegen des absurden Gebrauchs des Daumens für die Noten der sechsten Saite verkürzt und schlecht platziert sind, wird die köstlichste Musik erbärmlich und dürftig machen. Das aber ist, was man zu nennen wagt, Arrangieren.“
Sor führte die mangelhafte Qualität vieler Gitarrenarrangements auf die Verwendung des Daumengriffs zurück, wodurch populäre Orchesterstücke ihrer komplexen harmonischen Struktur beraubt wurden. Sein Kompositionsstil setzte vor allem eine verbesserte Technik der Greifhand voraus, stellte aber auch höhere Anforderungen an die Anschlagstechnik der rechten Hand. Die Zupfhand hatte vor allem die Aufgabe, die komplexe Stimmführung aufzufächern und hörbar zu machen. Wie flexibel sich der Fingersatz der Zupfhand den Stimmführungen in Sors Werken anpassen musste, zeigen die folgenden Textauszüge aus Sors Guitarre-Schule (1831):
"In der gewöhnlichen Lage meiner Finger halte ich den ersten über der zweiten Saite, den zweiten über der ersten und den Daumen bereit, um die übrigen ohne Verrückung der Hand zu durchlaufen. Liegt die Melodie tiefer als die Note der leeren Quinte, so rücke ich meinen ersten und zweiten Finger auf die dritte und zweite Saite; jede Bassnote schlage ich stark mit dem Daumen an, dessen ich mich auch sehr oft bediene um Noten anzuschlagen, die nicht zum Bass gehören, aber einen durch den Tackt betonten Theil ausmachen, oder die erste Note irgend eines Bruchthteils. Geht die Melodie doppelt und in Sexten, so entferne ich ein wenig meinen zweiten Finger vom ersten, erhebe die Hand etwas, (nicht durch Zusammenziehung des Handballens, sondern durch geringe Senkung des Ellenbogens) und mein erster und zweiter Finger befinden sich beide über ihren Saiten. Wenn die Mittelstimme mehr Bewegung hat als die Oberstimme und die zwischenliegende Saite angeschlagen werden soll, so gebrauche ich immer den ersten, weil meine Finger weniger Leichtigkeit haben, je mehr sie sich dem 4ten. nähern. Aus diesem Grunde nehme ich, wenn ich eine Reihe Sexten zu machen habe, ohne von einer Saite begleitet zu werden, den Daumen für alle Noten, die der 4ten., und selbst für einige, die der 3ten. angehören" (Sor 1831, S. 44f.).
"Das 74te Beispiel (No. 1. Taf: XXVII) müsste nach dem Gesagten gespielt werden, indem der erste Finger, der eben das A der dritten Saite angeschlagen hat, auf die vierte gerückt würde um das E zu spielen. Schreibt man es aber nach No. 2, so sieht man, dass dieses E kein Theil der Melodie ist, welche die halben Noten bilden, sondern eine eigene getrennte bildet, deren Noten mit denen des Basses nicht zusammenfallen: ich kann also den Daumen abwechselnd für den Bass und diese Stimme gebrauchen und doch die Hand in guter Lage behalten. Wenn in einem dreistimmigen Satz die mittlere Stimme mehr Noten zu spielen giebt als die Singstimme, und diese Noten zwei Saiten in Anspruch nehmen, so untersuche ich, ob der musikalische Accent auf der höchsten oder auf der niedrigsten liegt: Iiegt er auf der höchsten, so muss der Daumen die unterste machen, liegt er aber auf der niedrigsten, so mache ich sie beide mit dem ersten Finger, den ich von einer zur andern gleiten lasse" (ebd. S. 46).
"Jetzt muss ich bemerken, dass ich in einer Folge von Akkorden, deren Oberstimme die vorherrschende Melodie bildet, den Finger, womit sie gespielt werden soll, da er schwächer ist als die andern, beim Anschlagen der Saite desto mehr krümme; denn da er kürzer ist als der Mittelfinger, kann er ihr in so grosser Entfernung vom Stege nicht begegnen, und er berührt sie an einer Stelle, die ihm mehr Widerstand leistet, als die tiefern Saiten den übrigen Fingern. Ich musste ihm daher durch die Krümmung die Kraft geben, welche die Natur ihm versagt hat (...). In dem 85ten Beispiel Taf: XLIX bilden die obern Noten eine Melodie, welche mich nöthigen, den vierten Finger auf die angegebene Weise zu gebrauchen" (ebd. S. 69f.).
Diesen letzten Punkt, dass die Melodiestimme gegenüber dem Bass und der Mittelstimme schärfer konturiert werden müsse, betonte auch Dionisio Aguado: "Wenn eine Melodie im Diskant gespielt wird mit dem dazugehörigen Bass und einer Zwischenstimme, die als Begleitung dient, muss zusätzlich zu den genannten Überlegungen darauf geachtet werden, dass die Melodie als Hauptstimme hervorsticht: dass die Begleitung leise klingt, und dass der Bass gut wahrgenommen wird" (Aguado 1843, § 294 übers.).