Die sechssaitige Gitarre hat ihre Stimmung von ihrer unmittelbaren Vorgängerin, der fünfsaitigen Gitarre, übernommen. Im letzten Viertel des 18. Jahrhunderts hatte sich die Stimmung A-D-G-H-E als Standardstimmung für die fünfsaitige Gitarre durchgesetzt (vgl. B. D. C. 1773, S. 6; Trille La Barre 1797, S. 14). Sie wurde zwischen 1785 und 1790 um das tiefe E der inzwischen eingeführten sechsten Saite erweitert. Während in Frankreich um die Jahrhundertwende beide Gitarrentypen nebeneinander existierten, dominierte in Deutschland die sechssaitige Gitarre. So stellte Heinrich Christian Bergmann zu Beginn des 19. Jahrhunderts fest: "Unsere Guitarre weicht von der französischen dadurch ab, daß sie sechs, jene aber nur fünf Saiten hat. Die Saiten selbst sind aber alle eine Oktave tiefer gestimmt, als wie die Noten, ihrer Natur nach verlangen. (...) Die Saiten selbst heißen, von der tiefern zur höhern gerechnet, in folgender Ordnung so: die erste oder tiefste e, die zweyte a, die dritte d, die vierte g, die fünfte h und die sechste e, (das kleine e oder Chanterelle). Diese Saiten werden also nach dieser Benennung in lauter reine Quarten und einer großen Terz gestimmt" (1802, S. 4).
Der Referenzton war das A der Stimmgabel. Es konnte aber auch das G oder E des Klaviers sein. Solosänger, die ihren Gesang auf der Gitarre begleiteten, konnten den Stimmton ihrer Stimmlage anpassen. Dies empfahlen unter anderem Gatayes und Lemoine in ihren Gitarrenschulen: "Um die tiefste leere Saite A zu stimmen, singe man einen willkührlich tiefen Ton und stimme diese Saite darnach" (Gatayes 1803, S. 6). "Die Lyra (oder Gitarre) wird in der Regel einen halben Ton unter dem Normalton des Orchesters (oder der Stimmgabel) gestimmt, es sei denn, die Person, die sich selbst begleiten möchte, verfügt über einen ausreichenden Stimmumfang, dann wird sie auf den Normalton gestimmt" (Lemoine 1807a, S. 4 übers.; vgl. Joly 1819, S. 6). Es gab verschiedene Methoden, die Saiten der Gitarre zu stimmen.
Die im frühen 19. Jahrhundert am weitesten verbreitete Stimmmethode war die Unisono-Methode. Dabei wurden jeweils zwei Saiten der Gitarre auf einen gemeinsamen Ton, die Prime oder die Oktave, gestimmt.
Jean-Baptiste Phillis empfahl, die sechssaitige Gitarre und die Lyragitarre nach Oktaven zu stimmen: "Zuerst muss man die 3te Saite G auf das G des Klaviers oder eines anderen Instruments stimmen. Dann setzt man den 2ten Finger der linken Hand auf den zweiten Griff oder Bund, der Ihnen das A gibt. Stimmen Sie die 5te Saite A auf die Oktave darunter. Dann setzen Sie den 2ten Finger auf den 2ten Bund des A, der Ihnen ein H gibt. Stimmen Sie die 2te Saite H auf die Oktave darüber. Setzen Sie den 3ten Finger auf den 3ten Bund des H, der Ihnen ein D gibt. Stimmen Sie die 3te Saite D auf die Oktave darunter. Setzen Sie den 2ten Finger auf den 2ten Bund des D, der Ihnen ein E gibt. Stimmen Sie die 6te Saite auf die Oktave darunter und die Chanterelle der 1ten Saite auf die Oktave darüber" (1799, S. 3 übers.). Da diese Methode relativ einfach und zuverlässig war, wurde sie in der ersten Hälfte des Jahrhunderts häufig angewandt1. Mögliche Nachteile waren der Oktavabstand, der nicht so genau intoniert werden konnte, und ein unsauberes Greifen der Saiten.
Noch einfacher war die Stimmmethode mittels Primen. J. F. Scheidler übernahm sie von Gatayes und übertrug sie auf die sechssaitige Gitarre und die Lyragitarre: "Man stimmt die vorlezte Saite A eine Octave tiefer, nach dem A einer Flaute oder einer Stimmgabel: alsdann sezt man den Finger auf den 5ten Griff oder Bund dieser Saite, so hat man D, wonach dann die 4te leere Saite D gestimmt wird, mit dieser verfahre man wie mit der vorhergehenden, so giebt sie den Ton G, nach welcher man die folgende 3te leere Saite G stimmt. Auf dieser nehme man nur den 4ten Bund oder Griff, so erhält man den Ton H, wonach die 2te Saite gestimmt wird in H. Nimmt man endlich auf diesem H den 5ten Bund oder Griff, so erhält man den Ton E, wonach die 1te leere Saite gestimmt wird. Nun stimmt man die 6te leere Saite E, nach dem obern E, zwey 8ve tiefer, und die Guitarre findet sich richtig gestimmt" (1803, S. 2; vgl. Gatayes 1803, S. 6).
Diese Methode war bei weitem die beliebteste und wurde besonders Anfängern empfohlen2. Allerdings war sie etwas ungenau, da durch Bundunreinheiten oder unsauberes Greifen Fehler entstehen konnten, die sich aufsummierten. Bergmann modifizierte sie daher und stimmte, ausgehend vom Referenzton E, nicht nur die tiefe E-Saite, sondern auch die hohe E-Saite, die nun als Ziel- und Kontrollpunkt für die Stimmung der dazwischenliegenden Saiten diente: "Die erste Stufe oder das tiefe e, stimme man nach einem Klavier zuerst, und von diesem, zwey Oktaven höher, das kleine e, ganz rein. Auf dem tiefern e nehme man die fünfte Stufe und stimme darnach die zweyte Saite a. Auf der a Saite nehme man wieder die fünfte Stufe und stimme darnach die dritte Saite d. Die fünfte Stufe auf der Saite d, giebt den Ton der folgenden vierten Saite g. Da aber die fünfte Saite nur eine große Terz höher als die vierte Saite g stimmen muß; so nehme man auf dieser die vierte Stufe und stimme darnach die fünfte Saite h. Von der h Saite muß die sechste (das kleine e) schon vermöge der tiefsten Saite, worauf sie zwey Oktaven höher gestimmt ist, als eine reine Quarte stimmen, welches man auch wahr nehmen kann, wenn man auf dieser fünften Saite ebenfalls die fünfte Stufe nimmt, und mit diesem Ton die sechste Saite vergleicht" (1802, S. 4f.; vgl. N. N. 1802, S. 3; Lehmann 1820, S. 8).
Antoine Marcel Lemoine verwendete sowohl Primen als auch Oktaven zum Stimmen der sechssaitigen Gitarre und der Lyragitarre, wobei die Oktavvergleiche zur Überprüfung der Stimmung dienten: "Um das mittlere A zu erhalten, muss man den zweiten Finger der linken Hand auf die vierte Saite beim zweiten Bund setzen, der das A bildet, und prüfen, ob dieser Ton vollkommen mit der Stimmgabel (oder dem Stahlinstrument, welches das A gibt) übereinstimmt. Dann stimmt man das A oder die zweite Saite eine Oktave tiefer als das mittlere A und setzt den kleinen Finger auf den fünften Bund derselben zweiten Saite, der das D bildet, und stimmt die dritte leere Saite (oder das D) im Einklang. Man setzt den zweiten Finger auf den zweiten Bund des leeren D (oder der dritten Saite), der das E bildet, und stimmt dann das leere E (oder die erste Saite) eine Oktave tiefer. Man setzt den kleinen Finger auf den fünften Bund des leeren D (oder der dritten Saite), der das G bildet, und prüft, ob das leere G (oder die vierte Saite) beim Stimmen der drei anderen nicht gestört wurde. Man setzt den kleinen Finger auf diese 4te Saite beim 4ten Bund, der das H bildet, und stimmt das leere H oder die fünfte Saite im Einklang. Man setzt den kleinen Finger auf diese fünfte Saite beim fünften Bund, der das E bildet, und stimmt das leere E oder die sechste Saite im Einklang. Wenn man das Instrument auf diese Weise gestimmt hat, muss man überprüfen, ob die Oktaven stimmen. (Siehe Beispiele:) In diesen beiden Beispielen habe ich die leeren Noten weiß und die gegriffenen schwarz markiert" (1807a, S. 4f. übers.). Diese kombinierte Stimmmethode ermöglichte ein höheres Maß an Präzision, war aber auch wesentlich aufwendiger. Sie wurde vor allem in den anspruchsvolleren Gitarrenschulen empfohlen3.
Einen ganz anderen Ansatz verfolgte Ferdinando Carulli. Er empfahl fortgeschrittenen Spielern, die offenen Saiten, vier Quarten und eine große Terz, nach Gehör zu stimmen. Allerdings konnte er diese Methode nicht beschreiben. Er erklärte auch nicht, warum sie der Unsiono-Methode vorzuziehen sei (vgl. 1819, S. 5).
Carl Blum beschrieb zumindest die Reihenfolge, in der die offenen Saiten gestimmt werden sollten - zuerst die Diskantsaiten, dann die Basssaiten. Dabei sollten Intervalle miteinander kombiniert und das Ergebnis durch Akkorde überprüft werden: "Man stimmt erst das G rein, hernach nehme man die Terz H. Sind diese beiden richtig gestimmt so nehme man das E nemlich die Quinte, stimme hernach das tiefe E indem man die Quinte mit anschlägt; zulezt das A indem man ebenfalls beim anschlagen benuzt. Ist man mit diesen fünf Saiten rein zu Stande; so stimme man das D; indem man G H benutzt, woraus für das Ohr ein wohlklingender Quart-Sexten-Accord entspringt. Greift man nun zum Schluss den E dur oder C und G dur Accord, so ist nicht leicht zu fehlen" (1818, S. 5f.). Für geübte Spieler mit einem guten relativen Gehör war diese Methode sicher praktikabel. Anfänger waren damit jedoch überfordert.
Francesco Bathioli schlug eine einfachere Methode vor und erklärte auch, warum mit leeren Saiten gestimmt werden sollte: "Da die Saiten nicht immer rein oder fehlerfrei, sondern oft so beschaffen sind, daß, wenn man sie auf irgend einen Bund niederdrückt, sie entweder einen höhern oder tiefern Ton geben, so muß natürlicherweise die Stimmung, da man die leeren Saiten mit dem Tone der übergriffenen übereinstimmt, unrichtig ausfallen. Um nun das Verdrießliche des Fehlers einer Saite einiger Maßen zu mildern, müßen die fehlerhaften Saiten temperirt, d. h. nicht ganz rein, sondern nach Beschaffenheit des Fehlers etwas höher oder tiefer gestimmt werden" (1825 I/1, S. 25). Für Spieler mit geübtem Gehör empfahl er die Stimmmethode mittels Quarten, da diese am schnellsten zu einem befriedigenden Ergebnis führe. Dabei wurde zuerst die A-Saite auf Kammerton gestimmt und dann jeweils zwei offene Saiten miteinander verglichen, zuerst die tiefe E-Saite, dann der Reihe nach die D-, G-, H- und E-Saite. Als Alternative stellte er die Stimmmethode mittels Quinten vor, die jedoch den Nachteil hatte, dass die Saiten gegriffen werden mussten.
Jean-Racine Meissonnier hingegen stimmte die G-Saite nach einem Vergleichston und dann die offenen Diskantsaiten nach relativem Gehör. Die beiden tiefsten Basssaiten stimmte er von der hohen E-Saite aus über die Intervalle einer Duodezime und einer Doppeloktave. Das Stimmen mit offenen Saiten hatte den Vorteil, dass keine Fehler durch Bundunreinheiten oder unsauberes Greifen entstehen konnten. Diese Methode konnte jedoch nur angewendet werden, "wenn das Ohr in der Genauigkeit der Intervalle vollkommen geschult ist" (1828, S. 9 übers.). Sie wurde daher in den Gitarrenschulen selten empfohlen4.
Wie bereits bei den Stimmmethoden mit offenen Saiten deutlich wurde, bevorzugte jeder Gitarrenlehrer bestimmte Intervalle gegenüber anderen. Es ist daher nicht verwunderlich, dass einige Lehrer ein individuelles Potpourri von Intervallen und Akkorden zusammenstellten, die ihnen beim Stimmen der Gitarre am nützlichsten erschienen. Diese Stimmmethoden waren zwar gut durchdacht, aber für viele Gitarrenamateure zu kompliziert. Sie setzten sich nicht durch.
François Doisy schlug für die fünfsaitige Gitarre eine Stimmmethode mit Oktaven, reiner Quarte und großer Terz sowie einem D-Dur-Akkord zur Kontrolle vor: "Man stimme das a, das der zweite Griff auf der g-Saite giebt, nach seiner Stimme oder nach dem Orchester: B. A. dann die a-Saite in der Octave mit dem ersten a: B. B.; dann die d-Saite, welche mit dem ersten a die reine Quinte geben muss: d - a: B. C.; endlich stimme man das d, welches man auf dem dritten Griffe der h-Saite erhält, in der Octave mit der d-Saite: B. D. nehme man fis, welches der zweite Griff der e-Saite giebt, und mache daraus mit dem eben gestimmten d eine grosse Terz: d - fis: B. E.: hierzu füge man die d-Saite und das erste a, welche alle viere den reinen vollen Accord von d-dur geben müssen: d, a, d, fis: B. F. diese Art zu stimmen gelinget meistentheils am besten, und ist auch gewiss die vorzüglichste vor allen anderen" (1802, S. 3; vgl. 1801, S. 10).
Jean-Baptiste Mathieu benutzte eine Stimmmethode mit Quinten, Oktaven und verschiedenen Akkorden zur Überprüfung, die nur in Verbindung mit dem abgebildeten Notenbeispiel verständlich wird: "Man stimmt die 3te Saite mit einer Stimmgabel oder mit einem bereits gestimmten Instrument. Man setzt einen Finger auf den 2ten Bund, der ein A ist, und stimmt die fünfte [Saite] eine 8ve darunter. Dann stimmt man die 4te Saite, die ein D ist, eine 5t genau darunter; die 2te [Saite] nach der 4ten [Saite] eine 8ve darüber. Sie lassen die 2te, 3te und 4te Saite zusammen erklingen, um zu sehen, ob die Töne für das Ohr richtig sind; dann die 1te Saite nach der 3ten [Saite] eine 5t darüber: Schließlich die 6te Saite nach der 4ten [Saite] eine 8ve darunter. Die kleinen Noten sind diejenigen, die gestimmt werden müssen. Siehe das folgende Beispiel, das dies alles verständlicher macht" (1825, S. 14 übers.). Pierre Joseph Plouvier entwickelte die Stimmmethode weiter und führte den stimmenden Gitarristen durch einen Parcours von Primen, Terzen, Quarten, Oktaven und Akkorden in den verschiedenen Lagen (vgl. 1836, S. 28).
Franz Gregor Seegner stimmte die Gitarrensaiten hauptsächlich von der G-Saite aus, um zu verhindern, dass sich eine Fehlstimmung über mehrere Saiten ausbreitete. So entstand eine bunte Mischung aus Primen, Oktaven, einer Quinte und einer Doppeloktave: "1tens Wird das A der G Saite gleichtönig mit der Ton Gabel gestimmt. 2tens Wird nach diesem A, die A Saite eine Oktave tiefer gestimmt. 3tens Wird mit dem H der G Saite, die H Saite gleichtönig gestimmt. 4tens Wird nach dem D der H Saite, die D Saite eine Oktave tiefer gestimmt. 5tens Wird nach dem A der G Saite, die Discant E Saite eine Quint höher gestimmt. 6tens Wird nach der Discant E Saite, die Bass E Saite zwey Oktaven tiefer gestimmt" (1828, S. 6).
1 Quellen mit Oktavabstimmung: Aubert 1813; S. 3; Gräffer 1811, S. 20; Molino 1813, S. 8; Chevessaille 1818, S. 5; Joly 1819, S. 6; J. M. G. y E.: 1819, S. 5; Harder 1819, S. 36; Lehmann 1820, S. 8; Bathioli 1825 I/1, S. 25; Marescot 1825 I, S. 17; Mure 1825, S. 5; Henry 1826, S. 127; Carnaud 1826, S. 4f.; Meissonnier 1828, S. 9; Noriéga 1833, S. 73; Bruni 1834, S. 7; Defrance 1834, S. 2; Reichardt 1839, S. 4; Parrini 1841, S. 7; Aubery du Boulley 1842, S. 5.
2 Quellen mit Primenabstimmung: N. N. 1806, S. 4; Bédard 1807, S. 4; Bortolazzi 1831, S. 6; Bevilacqua 1808, S. 2; Chabran 1810, S. 7; Gräffer 1811, S. 20; Molino 1813, S. 7f.; Rosquellas 1813, S. 2; Plouvier 1816, S. 2; Meissonnier 1818, S. 4; Carulli 1819, S. 5; Harder 1819, S. 36; Joly 1819, S. 6; Bornhardt 1820, S. 2; Kníže 1820, S. 9f.; Lintant 1822, S. 7; Bigot 1824, S. 4; Schacky 1824, S. 2; Bathioli 1825 I/1, S. 24f.; Marescot 1825 I, S. 17; Mure 1825, S. 5; Henry 1826, S. 126; Varlet 1827, S. 2; Carnaud 1826, S. 4f.; Meissonnier 1828, S. 8f.; Martinez 1831, S. 9; Noriéga 1833, S. 73; Häuser 1833, S. 7; Hamilton 1834, S. 2; Bruni 1834, S. 7; Lagoanere 1835, S. 5; Pelzer 1835, S. 7; Nadaud 1841, S. 2; Kirkman 1842, S. 2; Muscarelli 1845, S. 5; Strawinski 1846, S. 11; Legnani 1847, S. 36f.; Sagrini 1848, S. 4.
3 Quellen mit Primen- und Oktavabstimmung: Bevilacqua 1808, S. 2; Staehlin 1811, S. 10; Mathieu 1825, S. 14; Aguado 1825, §§ 247.251; Meissonnier 1828, S. 9; Nüske 1832, S. 1; Carcassi 1836, S. 11; Aguado 1843, §§ 43.45.
4 Quellen mit Leersaitenstimmung: Ledhuy 1828, S. 2; Noriéga 1833, S. 73; Defrance 1834, S. 2; Perez 1843, S. 4.
V: 27.11.2022
LA: 12.07.2024
Autor: Dirk Spönemann