Der Vortrag

Der Vortrag ist das, wodurch ein Tonstück hörbar wird, definiert Johann Abraham Peter Schulz in Johann Georg Sulzers Enzyklopädie Allgemeine Theorie der Schönen Künste (1774). Kaum ein Artikel fasst die allgemeine Vortragslehre des späten 18. und frühen 19. Jahrhunderts besser zusammen als der Artikel Vortrag. (Musik.) des Lüneburger Komponisten. Er stellt systematisch und umfassend alle wesentlichen Aspekte des musikalischen Vortrags unabhängig vom jeweiligen Instrument dar und ist als Quelle für eine historisch informierte Aufführungspraxis klassischer Gitarrenmusik unentbehrlich.

In Anlehnung an die Redekunst nennt Schulz drei Merkmale eines guten musikalischen Vortrags: 1. Deutlichkeit, 2. Ausdruck und 3. Schönheit oder Zierlichkeit. Der Schwerpunkt seiner Vortragslehre liegt auf den ersten beiden Merkmalen, die er als Körper und Seele des guten Vortrags bezeichnet. Unter Deutlichkeit versteht Schulz: 1. die Wahl der richtigen Taktbewegung, 2. die reine und distinkte Tongebung, 3. das Fühlbarmachen der Akzente, 4. die deutliche und richtige Markierung der Einschnitte und 5. die Taktfestigkeit. Zum Ausdruck zählt er: 1. die richtige Bewegung, 2. die dem Charakter des Stückes entsprechende Schwere oder Leichtigkeit des Vortrages und 3. die angemessene Stärke oder Schwäche, mit der ein Stück vorgetragen wird. Der Schönheit ordnet er zu: 1. den schönen Ton, 2. die Ungezwungenheit und Leichtigkeit des Vortrags und 3. die anständige Haltung und Bewegung des Körpers, ferner die Ausschmückung eines Stückes mit Verzierungen und Kadenzen. Das Lesen der Noten und die Beherrschung des Instruments setzt Schulz für einen guten Vortrag als selbstverständlich voraus.

Die deutschsprachigen Gitarrenschulen, die einen Abschnitt über den musikalischen Vortrag enthalten, zeigen deutlich, dass sie sich mehr oder weniger an Schulz' Vortragslehre orientierten. So bezieht sich Johann Traugott Lehmann bezieht sich in seiner Neue[n] Guitarre-Schule (1806) ausdrücklich auf Sulzers Allgemeine Theorie der Schönen Künste und gibt den Inhalt von Schulz' Artikel in zusammengefasster Form wieder. Simon Molitor fordert in seinem Kommentar zur Große[n] Sonate für die Guitare allein (1806) Deutlichkeit und Ausdruck im Vortrag: "Hauptsächlich aber muss man den darinn herschenden Gesang immer so ausheben, dass er durch die begleitende Mittelstimme und Bass nicht unklar und verdunkelt werde. Wer überhaupt auf Geschmak im Vortrage einigen Anspruch machen will, muss den Karakter eines jeden Musikstükes genau kennen, und zu beurtheilen fähig seyn, um ihm die gehörige Farbe geben zu können" (S. 23). Johann Jakob Staehlin, der in seiner Anleitung zum Guitarrespiel (1811) Molitors Ausführungen weitgehend folgt, fügt als dritten Punkt die Verzierungen hinzu: "Der Vortrag ist eine Sache des Gefühls. Wer Anlage zur Musik, Geschmak, Beurtheilungsgabe mit der erforderlichen Kenntniss der Harmonie verbindet, wird durch öfteres Hören guter und mit Ausdruk vorgetragener Musik von selbst darauf geleitet. Dass davon ein sicherer und gleicher Anschlag, Deutlichkeit, das Beobachten der richtigen Taktbewegung, des Forte, Piano u. s. w. Taktfestigkeit, richtiges Andeuten der musikalischen Einschnitte, leichte Ausführung der vorgeschriebenen Verzierungen und guter Geschmak bey sparsamer Einstreuung der willkührlichen unzertrennlich ist, versteht sich von selbst" (S. 11). 

Um 1800 vollzog sich in Nord- und Mitteldeutschland ein Paradigmenwechsel im Musikverständnis. Das klassische Paradigma wurde durch das romantische abgelöst. Der Schwerpunkt der Vortragslehre verlagerte sich ganz auf den Ausdruck. Einer der ersten, der eine Vortragslehre im Sinne der Frühromantik formulierte, war der Komponist und Pianist August Eberhard Müller. In seiner Klavier- und Fortepiano-Schule (1804) entwickelte er seine Lehre vom richtigen und schönen Vortrag, wobei der richtige Vortrag das umfasste, was J. A. P. Schulz als Voraussetzung für einen guten Vortrag bezeichnete, und der schöne Vortrag darin bestand, den Charakter eines Musikstückes zu erfassen und durch ausdrucksvolles Spiel zur Geltung zu bringen. Alle Aspekte des Vortrags - Ornamentik, Agogik, Akzentuierung, Phrasierung, Artikulation, Dynamik, Tempo etc. - wurden von Müller dem musikalischen Ausdruck untergeordnet. Johann Nepomuk Hummel und Louis Spohr übernahmen Müllers Lehre vom richtigen und schönen Vortrag in ihre Instrumentalschulen. Nach Spohr wurde ein richtiger Vortrag dann zu einem schönen Vortrag, wenn der Musiker durch den Einsatz expressiver Ausdrucksmittel - Klangfarbe, Phrasierung, Glissando, Vibrato und Rubato - dem vorgetragenen Stück Gefühl und Eleganz verlieh. Dies durfte jedoch nicht äußerlich geschehen. Der ausführende Musiker musste das Gefühl, das der Komponist in sein Werk gelegt hatte, innerlich nachempfinden und in sein Spiel einfließen lassen. 

August Harder übertrug Müllers Vortragslehre auf das Gitarrenspiel. Seine Guitarre-Schule (1813) verstand er in erster Linie als Anleitung zum richtigen Vortrag. Sie lehrte die technische Beherrschung des Instruments ebenso wie die exakte Wiedergabe eines jeden Stückes nach Noten, Taktart und Bewegung sowie die Beachtung der Vortragsbezeichnungen. Die Fähigkeit, ein Stück schön und ausdrucksvoll zu spielen, konnte sie nicht vermitteln. Ausdrucksvolles Spiel, so Harder, erfordere ein feines Gefühl, Urteilsvermögen und Geschmack. Diese müsse sich jeder selbst durch das Hören und Beobachten gut gespielter Stücke aneignen. Er müsse die Fähigkeit erwerben, jede Musik nach ihrem individuellen Charakter und dem Gang ihrer Darstellung zu erfassen, und mit dieser eine gewisse Kunstfertigkeit im Ausdruck der verschiedenen Empfindungen verbinden. Wie das im Einzelnen aussehen kann, erläuterte Harder am Beispiel des Gesangs mit Gitarrenbegleitung und verschiedener Gattungen wie Lied, Opernarie, Deklamationsstück, Romanze und Ballade.

Harder war der erste und zugleich letzte deutsche Gitarrist, der im Geiste der Frühromantik eine Vortragslehre für sein Instrument verfasste. Größeren Einfluss hatten in Deutschland und Österreich die Gitarrenschulen der Italiener Carulli, Giuliani und Molino, in denen die technische Beherrschung des Instruments im Vordergrund stand. Im Gegensatz dazu entdeckten die französischen Gitarristen den musikalischen Ausdruck. D. Joly war der erste, der seiner Schule L'Art de Jouer de la Guitare (1819) einen Abschnitt über den Ausdruck hinzufügte. Nachdem er eingeräumt hatte, dass die Gitarre weniger ausdrucksstark sei als Blas- oder Streichinstrumente, betonte er die Leichtigkeit, mit der man sich auf der Gitarre nuanciert ausdrücken könne. Anhand eines Musikbeispiels zeigte er die große Bandbreite an Ausdrucksmitteln auf, die dem Gitarristen zur Verfügung stehen: Klangfarbe, Vibrato, Flageoletts, Glissandi, Arpeggien, dynamische Abstufungen und Temponuancen. Pierre Joseph Désiré Plouvier schrieb in seinen Principes Généraux (1836) der Gitarre zunächst dieselben Ausdrucksmittel zu wie der Harfe und dem Klavier: die Klarheit des Spiels, die Rundheit des Tons und die genaue Beachtung aller dynamischen Nuancen. Er war jedoch davon überzeugt, dass die Gitarre nicht nur wie Harfe und Klavier die Saiten zum Klingen bringen, sondern durch Vibrato, Portamento, Legato und Flageoletttöne auch zum Herzen sprechen könne.

In England machte Mrs. Joseph Kirkman deutlich, dass sich die musikalische Interpretation vor allem am Gefühl orientieren müsse. In ihrer Improved Method for the Guitar (1842) stellte sie fest: "To accomplish the compositions now presented to notice not only a well grounded knowledge is required, but that species of execution which is the result of taste and sensibility; the true requisites for enabling the performer (after Mechanical perfection has been acquired) to excel in all those delicacies of light, shade, and sentiment, properly denominated style" (S. 29).

Dionisio Aguado schließlich beschäftigte sich in seiner Escuela de Guitarra (1825) und in seinem Hauptwerk Nuevo Método para Guitarra (1843) mit den Mitteln und dem Zweck des musikalischen Ausdrucks. Die Aufgabe des Interpreten, so Aguado, bestehe darin, die Ideen des Komponisten auf dem Instrument so zum Ausdruck zu bringen, dass die Klänge die Herzen der Zuhörer berühren. Um dies zu erreichen, sei Sensibilität erforderlich. Der ausführende Musiker müsse sich für das, was er spielt, interessieren. Nur so könne er das Interesse der anderen wecken und sie an seinen Gefühlen teilhaben lassen. Im Gegensatz zu den französischen Gitarristen nennt der Spanier nur wenige für die Romantik typische Ausdrucksmittel, dafür aber solche, die zur Deutlichkeit des Vortrags beitragen: Interpunktion, Taktbewegung, metrische und expressive Akzentuierung, dynamische Abstufungen, Hervorhebung der Melodie sowie Verzierungen und Diminutionen. Erst ganz am Ende erwähnt er das Rubato.

  1. Das Notenmaterial
  2. Das Musikverständnis
  3. Das Tempo
  4. Die Akzentuierung
  5. Die Interpunktion
  6. Die Artikulation
  7. Dynamik und Klangfarbe
  8. Klangeffekte

V: 04.12.2021

LA: 23.09.2024

Autor: Dirk Spönemann