Die Agogik

Im 18. Jahrhundert war das Tempo an Takt und Metrum gebunden. Dies bedeutete jedoch nicht, dass die metrische Umsetzung der Noten als gleichförmiger, mechanischer Vorgang verstanden wurde. Im Gegenteil: Obwohl sich Johann Joachim Quantz bei der Bestimmung des Tempos am Pulsschlag orientierte (Quantz 1752, S. 261), forderte er von einem guten musikalischen Vortrag, dass er "ausdrückend" sei (ebd. S. 107). Dazu gehörte auch die Veränderung des Tempos durch die Vorwegnahme, Verzögerung oder Verlangsamung wichtiger Noten. Deshalb war es für Quantz "ungereimt und unmöglich", "ein ganzes Stück nach dem Pulsschlag" zu messen (ebd. S. 261). Ähnlich lehnte C. P. E. Bach jede Art von Mechanik in der Musik ab: "Es gehört hiezu eine Freyheit, die alles sclavische und maschinenmäßige ausschliesset. Aus der Seele muß man spielen, und nicht wie ein abgerichteter Vogel" (Bach 1787, S. 119). Wenn man ausdrucksvoll und aus der Seele spielen wolle, müsse man, so Bach, vom Grundtempo eines Stückes abweichen: "So kan man doch öfters die schönsten Fehler wider den Tackt mit Fleiß begehen", wobei man als Solist ohne Begleitung "der ganzen Bewegung zuweilen einige Gewalt" antun darf, sobald man aber "mit starcker Begleitung" spielt, "man bloß in seiner Stimme allein wider die Eintheilung des Tackts eine Aenderung vornehmen kan, indem die Hauptbewegung desselben genau gehalten werden muß" (ebd. S. 120).

Die variable Tempogestaltung konnte sich nach Bach auf die musikalische Bewegung eines ganzen Stückes beziehen oder nur auf die Melodiestimme, die sich von der streng im Takt bleibenden Begleitstimme abhob. Daniel Gottlob Türk fasste die beiden Formen der variablen Tempogestaltung begrifflich zusammen als "Eilen und Zögern" (Accelerando und Ritardando) und "Tempo rubato" (Türk 1789, S. 371.374).

1 Das Accelerando und Ritardando

Die erste Form der variablen Tempogestaltung bestand darin, das Tempo an bestimmten Stellen maßvoll zu beschleunigen oder zu verlangsamen, um einem Stück mehr Ausdruck zu verleihen. Friedrich Guthmann diskutierte in seinem Aufsatz Ueber Abweichung vom Takte (1805) die Frage, inwieweit eine Abweichung vom Takt erlaubt sei: „Jede schöne Kunst liebt eine gewisse - zwar nicht regellose, aber auch nicht in die Regel gepresste Freyheit. Diese würde im letztern Falle ganz aufhören. - Nur zu oft opfert man den Zweck dem Mittel auf. Der Takt ist Mittel um unsere Empfindungen desto freyer und besser äussern zu können. Er soll sie aber nicht hemmen. Unsere Empfindung kann - wenn ich so sagen darf - wol überfliessen, aber nicht überströmen - Das Steigen und Fallen derselben ist so allmählig, der rasche oder langsame Flug der Phantasie hängt so sehr von dem geistigen Stoffe, welcher produzirt wird, ab - dass man gewiss nicht im Stande seyn kann, dies alles durch Noten und Worte nur anzudeuten, geschweige denn bestimmt vorzuschreiben“ (AMZ 7/1805, Sp. 348). Er schloss seine Überlegungen ganz im Sinne C. P. E. Bachs: „Im Ganzen genommen muss die Bewegung sich immer gleich bleiben, wenn sie gleich in einzelnen Stellen abweicht“ (AMZ 7/1805, Sp. 349).

Ein anonymer Autor beklagte sich in der Allgemeinen musikalischen Zeitung vom 6. April 1808 über Willkür und Maßlosigkeit bei der Tempogestaltung: "Nun ist aber bekannt, dass der grösste Theil derjenigen Tonkünstler, die sich insbesondere dem Vortrage der Solostimmen widmen, schon seit geraumer Zeit angefangen hat, mit dem Zeitmaasse sehr willkührlich zu verfahren, und dass man immer geneigter wird, das Joch des Taktes abzuschütteln" (AMZ 10/1808, Sp. 438). Der freien Tempogestaltung stand er distanziert gegenüber. Er akzeptierte lediglich die Praxis des Tempo rubato, bei der sich ein Solist gegenüber den Ripienisten gewisse Freiheiten herausnehmen konnte: "Der Vorwand, es gewinne durch Anhalten oder Forteilen im Zeitmaasse der Ausdruck, ist, sehr seltne Fälle abgerechnet, nichts als ein Vorwand, und soll nur den Zuhörern Sand in die Augen werfen, und die Accompagnisten zum Nachgeben nöthigen, damit man, wenn man nicht alle Stimmen in einem und ebendemselben Moment nachgeben, welches in vielen Fällen nicht möglich ist, man den selbst begangenen Fehler wieder [sic] den Takt auf das Accompagnement wälzen könne. Leider erlaubt dieses dem Sänger oder dem Solospieler noch immer die Mode; leider wird dadurch der Vortrag der Ripienstimmen immer mehr herabgewürdigt (...). Braucht es auch gegen diesen Missbrauch Autoritäten? Nun denn: Mozart spielte aufs Haar im Takt, Ph. Em. Bach that es ebenfalls, und Clementi, Romberg und Rode thun's noch! (...) Sey es auch, dass es zuweilen in einer Solostimme einige Stellen gebe, die durch eine etwas vermehrte oder verminderte Geschwindigkeit der Bewegung, nicht blos scheinbar, sondern wirklich, in Ansehung des Ausdrucks gewinnen können: so kann ja dieses wenigstens der Fall bey weitem nicht so oft, und bey weitem nicht so arg seyn, als ein solcher sogenannter pikanter Solospieler von der Taktbewegung abweicht; und ein plötzliches Rucken und Zucken, ein plötzliches Verändern der Bewegung vielleicht um ein Drittheil, wo nicht um die Hälfte, des Maasses, wie man jetzt sogar nicht selten hört, kann und darf nun vollends gar nie u. nirgends geduldet werden" (ebd. Sp. 438f. Anm.).

Gottfried Wilhelm Fink hingegen warnte in seinem Aufsatz Ueber Takt, Taktarten und ihr Charakteristisches (1809) vor Pedanterie bei der Tempogestaltung: „Nur noch ein paar Worte über das freye, blos nach Gefühlsprincipien, ohne Anzeige des Komponisten, berechnete Anhalten und Eilen des Vortrags in kleinern Sätzen eines Stückes, in einzelnen Takten und auch in einzelnen Takttheilen. Es würde höchst pedantisch seyn, wenn es jemand wagen wollte, dem Spieler diese Freyheit, die, mit Geschmack angebracht, einen herrlichen, hohen Geist in die simpelsten Gedanken legen kann, … rauben wollte“ (AMZ 11/1809, Sp. 229f.).

Offensichtlich herrschte um die Jahrhundertwende Uneinigkeit darüber, inwieweit das Tempo frei gestaltet werden durfte. Damit Temponuancen als Ausdrucksmittel mit Maß und Geschmack eingesetzt werden konnten, ging Türk in seiner Klavierschule (1789) ausführlich auf die "Stellen" ein, "wo das Eilen oder Zögern statt finden" kann.

1. Accelerando: "In Tonstücken, deren Charakter Heftigkeit, Zorn, Muth, Raserey u. dgl. ist, kann man die stärksten Stellen etwas beschleunigt (accelerando) vortragen. Auch einzelne Gedanken, welche verstärkt (gemeinglich höher) wiederholt werden, erfordern gewissermaßen, daß man sie auch in Ansehung der Geschwindigkeit zunehmen lasse. Wenn zuweilen sanfte Empfindungen durch eine lebhafte Stelle unterbrochen werden, so kann man die Letztere etwas eilend spielen. Auch bey einem Gedanken, durch welchen unerwartet ein heftiger Affekt erregt werden soll, findet das Eilen statt."

2. Ritardando: "Bey außerordentlich zärtlichen, schmachtenden, traurigen Stellen, worin die Empfindung gleichsam auf Einen Punkt zusammen gedrängt ist, kann die Wirkung durch ein zunehmendes Zögern (Anhalten, tardando) ungemein verstärkt werden. Auch bey den Tönen vor gewissen Fermaten nimmt man die Bewegung nach und nach ein wenig langsamer, gleich als würden die Kräfte allmählich erschöpft. Die Stellen, welche gegen das Ende eines Tonstücks (oder Theiles) mit diminuendodiluendosmorzando u. dgl. bezeichnet sind, können ebenfalls ein wenig verweilend gespielt werden" (Türk 1789, S. 371). "Eine zärtlich rührende Stelle zwischen zwey lebhaften, feurigen Gedanken, ... kann etwas zögernd ausgeführt werden; nur nimmt man in diesem Falle die Bewegung nicht nach und nach, sondern sogleich ein wenig (aber nur ein wenig) langsamer." "Zu den Stellen, welche nicht streng nach dem Takte, sondern etwas verweilend vorgetragen werden könnten, gehören, außer den durch kleine Nötchen angezeigten oder Senza tempo &c. überschriebenen Verzierungen und Uebergängen, auch ähnliche Einleitungen in Hauptsätze a), wenn gleich der Komponist die gewöhnliche Schreibart beibehalten hat. Eben so kann ein matter Gedanke bey der Wiederholung verweilend gespielt werden b)" (Türk 1789, S. 372).

Während Türk sich auf die Musik der Wiener Klassik bezog, beschrieb Carl Czerny die in der Romantik übliche Praxis der Tempogestaltung. Czerny maß der variablen Tempogestaltung eine wesentlich größere Bedeutung bei als Türk. Für ihn waren die "Veränderungen des vorgeschriebenen Tempo’s durch das rallentando und accelerando" das "beinahe wichtigste Mittel des Vortrags" (Czerny 1839 III, S. 24). Er hielt zwar grundsätzlich an der klassischen Tempobestimmung fest, forderte aber zugleich, dass feine Temponuancen innerhalb der musikalischen Phrasen den Vortrag ausdrucksvoll gliedern sollten: "Nun muss zwar allerdings jedes Tonstück in dem, vom Autor vorgeschriebenen und vom Spieler gleich Anfangs festgesetzten Tempo, so wie auch überhaupt streng im Takte und in niemalsschwankender Bewegung bis an's Ende vorgetragen werden. Aber diesem unbeschadet, kommen sehr oft, fast in jeder Zeile, einzelne Noten oder Stellen vor, wo ein kleines, oft kaum bemerkbares Zurückhalten oder Beschleunigen nothwendig ist, um den Vortrag zu verschönern und das Interesse zu vermehren" (ebd. S. 24). 
Um willkürlichen Missbrauch und Übertreibungen zu vermeiden, stellte Czerny Regeln auf, an welchen Stellen das Tempo verlangsamt werden sollte: "Das Ritardando wird in der Regel weit häufiger als das Accelerando angewendet, weil es den Charakter eines Satzes weniger entstellen kann, als das zu öftere Beschleunigen des Zeitmasses.

Am schicklichsten wird retardirt:

  1. In jenen Stellen, welche die Rückkehr in das Hauptthema bilden.
  2. In jenen Noten, welche zu einem einzelnen Theilchen eines Gesangs führen.
  3. Bei jenen gehaltenen Noten, welche mit besonderem Nachdruck angeschlagen werden müssen und nach welchen kurze Noten folgen.
  4. Bei dem Übergang in ein anderes Zeitmass, oder in einen, vom Vorigen ganz verschiedenen Satz.
  5. Unmittelbar vor einer Haltung.
  6. Beim Diminuendo einer früher sehr lebhaften Stelle, so wie bei brillanten Passagen, wenn plötzlich ein piano und delicat vorzutragender Lauf eintritt.
  7. Bei Verzierungen, welche aus sehr vielen geschwinden Noten bestehen, die man nicht in das rechte Zeitmass hineinzwängen könnte.
  8. Bisweilen auch in dem starken crescendo einer besonders markirten Stelle, die zu einem bedeutenden Satze oder zum Schluss führt.
  9. Bei sehr launigen, capriziösen, und fantastischen Sätzen, um deren Charakter desto mehr zu heben.
  10. Endlich fast stets da, wo der Tonsetzer ein espressivo gesetzt hat; so wie
  11. Das Ende eines jeden langen Trillers, welcher eine Haltung und Cadenz bildet, und diminuendo ist, wie auch jede sanfte Cadenz überhaupt" (ebd. S. 25f.).

2 Das Tempo rubato

Wenn man heute von Tempo rubato ("geraubtes Zeitmaß") spricht, meint man in der Regel eine leichte Beschleunigung und anschließende Verlangsamung des Tempos eines Stückes nach dem Ermessen des Solisten. Damit verbunden ist die Vorstellung, dass Rubato auf Accelerando und Ritardando beruht. Diese Vorstellung ist im Hinblick auf die in der Zeit um 1800 praktizierte Rubato-Technik unangebracht und falsch. Zur Zeit der Wiener Klassik war das Tempo rubato an Takt und Metrum gebunden. Daniel Gottlob Türk und Heinrich Christoph Koch unterscheiden "verschiedene Gattungen des Tempo rubato", auf die im folgenden eingegangen wird (AMZ 10/1808, Sp. 513).

2.1 als synkopische Verschiebung der Melodiestimme

Eine Art des Rubato betraf nur die Melodiestimme, die sich durch die Verlängerung oder Verkürzung einzelner Notenwerte mit anschließendem Ausgleich von der streng im Takt spielenden Begleitstimme abhob. Diese Form der Tempogestaltung, das Vorauseilen oder Zurückbleiben der Melodiestimme gegenüber dem Takt, wurde zunächst in der Vokalkunst entwickelt (vgl. Agricola 1757, S. 219f.) und in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts auf die Instrumentalmusik übertragen.

Leopold Mozart beschrieb diese Variante des Tempo rubato in seinem Versuch einer gründlichen Violinschule (1756): "Allein wenn man einem wahren Virtuosen ... accompagniret; dann muß man sich durch das Verziehen, oder Vorausnehmen der Noten, welches er alles sehr geschickt und rührend anzubringen weiß, weder zum Zaudern noch zum Eilen verleiten lassen, sondern allemal in gleicher Art der der Bewegung fortspielen" (Mozart 1756, S. 263). Sein Sohn Wolfgang Amadeus wandte das Tempo rubato ausgiebig an: "Daß ich immer accurat im tact bleybe. über das verwundern sie sich alle. Das tempo rubato in einem Adagio, daß die lincke hand nichts darum weiß, können sie gar nicht begreifen. bey ihnen giebt die lincke hand nach" (an den Vater, 24.10.1777). Er verstand das Tempo rubato als eine Form des "expressive[n]" Spiels in langsamen Sätzen (ebd.).

Daniel Gottlob Türk bezeichnete diese Form der Tempogestaltung als "Tonverziehen": "Gemeiniglich versteht man darunter eine Art von Verkürzung und Verlängerung der Noten, oder ein Verrücken (Versetzen) derselben. Es wird nämlich Einer Note etwas von ihrer Dauer entzogen, (gestohlen,) und dafür einer Andern so viel mehr gegeben, wie in den nachstehenden Beyspielen b) und c). Bey a) sind die simpeln Noten, bey b) ist das Tempo rubato durch eine Vorausnahme (anticipatio) und bey c) durch eine Verzögerung (retardatio) angebracht. Man sieht hieraus, daß durch diesen Vortrag das Zeitmaß oder vielmehr der Takt im Ganzen nicht verrücket wird. Folglich ist der gewöhnliche, aber etwas zweydeutige deutsche Ausdruck: verrücktes Zeitmaß, nicht passend; denn die Grundstimme geht ihren Gang taktmäßig (unverrückt) weiter, nur die Noten der Melodie werden gleichsam aus der ihnen zukommenden Stelle verschoben. Daher wäre vielleicht der Ausdruck: das Versetzen (oder Verziehender Noten oder Taktglieder sc. richtiger" (Türk 1789, S. 374f.).

Die Bezeichnung "verrücktes Zeitmaß" hielt Türk für unpassend, da das Tempo rubato nicht das Zeitmaß verändere, sondern die Melodiestimme synkopisch gegen die Bassstimme verschiebe. Für die synkopische Verschiebung einer Stimme gegen eine andere ohne Änderung des Tempos hielt er den Begriff "Tonverziehen" für treffender: "Dieses Tonverziehen, wie es sonst auch genannt wird, muß sehr behutsam angewandt werden, weil leicht Fehler in der Harmonie dadurch entstehen können" (ebd. S. 375). 

Heinrich Christoph Koch bezeichnete diese Vortragsweise in seinem Artikel "Ueber den technischen Ausdruck: Tempo rubato" (1808) als "veraltet": "Ehedem, und besonders in der ehemaligen Berliner Schule, verband man mit dem Ausdrucke Tempo rubato einen Nebenbegriff, und verstand darunter diejenige Vortragsart dieser oder jener cantabeln Stelle eine Solostimme, bey welcher der Spieler mit Vorsatz von der angenommenen Bewegung des Zeitmaasses und von der gewöhnlichen Eintheilung der Notengattungen abwich, und die melodischen Tonfolgen gleichsam ohne alle bestimmte Zeiteintheilung vortrug, während dabey die Begleitung auf das strengste im Zeitmaasse fortspielte" (AMZ 10/1808, Sp. 518). "Ob es nun gleich anjetzt noch hin und wieder taktfeste Virtuosen giebt, die sich zuweilen einer ähnlichen Vortragsart mit Vortheil bedienen, und sich (wohl zu merken!) ganz unvermerkt wieder mit der in der Taktbewegung richtig fortgehenden Begleitung zu vereinigen wissen: so geschieht es dennoch gewöhnlich nur mit einer weit weniger merklichen Abweichung von dem Zeitmaasse, als ehedem, so dass man behaupten kann, jene Art dieses Vortrags sey heut zu Tage ... veraltet, und unter den vorzüglichen Virtuosen nicht mehr gebräuchlich" (ebd.; vgl. Koch 1802, Sp. 1503). Zur Berliner Schule zählte er die am Hofe Friedrichs des Großen tätigen Komponisten: C. P. E. Bach, Johann Joachim Quantz und Franz Benda.

2.2 als Umkehrung der metrischen Gewichtsverhältnisse

Neben dieser "Gattung des Tempo rubato" gab es eine weitere, die nicht die Stimmführung, sondern die metrische Akzentuierung betraf. Türk führte dazu aus: "Außer der angezeigten Bedeutung des Tempo rubato versteht man unter diesem Ausdrucke zuweilen auch nur eine besondere Art des Vortrages, wenn nämlich der Accent, welcher den guten Noten zukommt, auf die schlechten verlegt wird, oder mit andern Worten: wenn man die Töne auf dem schlechten Takttheile sc. stärker vorträgt, als diejenigen, welche in die gute Zeit des Taktes (oder einer Note) fallen, wie in diesen Beispielen" (Türk 1789, S. 375).

In dieser Verrückung des Taktgewichts bestand nach Koch die eigentliche Funktion des Tempo rubato: "Man verstehet demnach unter dem technischen Ausdrucke Tempo rubato eine mehrmals unmittelbar nach einander folgende Verrückung des Taktgewichts" (AMZ 10/1808, Sp. 514). Koch unterschied drei Arten der Verrückung des Taktgewichts und dementsprechend "drey besondere Gattungen des Tempo rubato" (ebd. Sp. 515).

Die erste Methode, die Verschiebung des Akzents von einem metrisch schweren auf einen metrisch leichten Taktteil, wurde von Türk beschrieben: "1) wenn bey einer Folge von (mehrentheils gleichartigen) Noten die im Anschlage stehenden schwach, die im Nachschlage stehenden hingegen stark intonirt werden, so dass dadurch das Taktgewicht auf die unaccentuirten Noten übertragen wird. Hierzu gehört auch der Fall, in welchem vermittelst einer in allen vorhandenen Stimmen auf das gute Taktglied fallenden Pause der Accent auf den Nachschlag verdrängt wird" (ebd.; vgl. Koch 1802, Sp. 1502f.). 

2.3 als zeitlich versetzte Wiederholung eines Themas

Die zweite Methode bestand in der zeitversetzten Wiederholung eines musikalischen Themas in verschiedenen Stimmen. Dieses Kompositionsprinzip wurde in der Fuge angewandt: "2) wenn man einen melodischen Satz dergestalt nachahmt, dass ihn die nachahmende Stimme in dem entgegengesetzten Takttheile oder Taktgliede vorträgt" (ebd. Sp. 516). "Dieses Processes bedient man sich eigentlich nur in der Fuge, oder in einem der Fuge ähnlichen Tonstücke" (ebd. Sp. 517). 

2.4 als Verschiebung des Taktgewichts durch Mischung von Taktarten

Die dritte Methode, die Vermischung zweier Taktarten, war von Joseph Haydn und Carl Ditters von Dittersdorf entwickelt worden: "3) wenn ein melodischer Theil, welcher der Beschaffenheit seiner grammatischen Accente zu Folge in die gerade Taktart gehört, wie z. B. der Satz bey a, in einer ungeraden Taktart, wie bey b, gebraucht wird" (ebd. Sp. 517).

"... oder umgekehrt, wenn man einen melodischen Theil, der eigentlich der ungeraden Taktart eigen ist, wie der Satz bey c, in einer geraden Taktart anwendet, wie bey d" (ebd.).

"In diesem Falle entstehet die unmittelbare Folge der Verrückung des Taktgewichts aus der Vermischung der geraden und ungeraden Taktart, und diese Gattung der Rückung ist nicht allein diejenige, die man im engsten Sinne des Wortes mit Tempo rubato bezeichnet, weil der melodische Theil, der diese Rückungen veranlasst, aus einer entgegengesetzten Taktart entwendet ist, sondern sie ist auch diejenige, bey welcher die Verrückung des Taktgewichts am schärfsten auf unser Gefühl wirkt, und die seither in den Tonstücken oft ... gebraucht worden ist" (ebd.).

2.5 Das Rubato in der Romantik

In der Frühromantik löste sich das Tempo immer mehr von Takt und Metrum. Die Tempogestaltung wurde freier, individueller und flexibler. Gerade das von Koch als "veraltet" abgewertete melodische Rubato erfuhr in der Romantik eine deutliche Aufwertung.

Die variable Tempogestaltung betraf zum einen das Solospiel im Gegensatz zur Orchesterbegleitung. Louis Spohr meinte dazu: "Die Eintheilung der Taktglieder nach ihrem Zeitwerth, muss beym Orchesterspiel die allerstrengste seyn, weil sonst kein genaues Zusammentreffen der Spieler möglich wäre. Alles Verweilen auf einzelnen oder mehreren Tönen, (das Tempo rubato,) welches beym Solospiel oft von so grosser Wirkung ist, darf also hier nicht statt finden" (Spohr 1832, S. 248). Lediglich kleinere Temponuancen waren den Orchesterspielern erlaubt, während der Solist in der Tempogestaltung größere Freiheiten hatte: "Der Begleitende hüte sich, den Solospieler im Tempo weder zu treiben, noch zurückzuhalten, doch folge er ihm sogleich, wenn dieser sich kleine Abweichungen vom Zeitmaass erlauben sollte. Hierunter ist jedoch das Tempo rubato des Solospielers nicht verstanden, bey welchem die Begleitung ihren ruhigen, abgemessenen Gang fortgehen muss" (ebd. S. 249). 

Zum anderen wurde das Rubato im begleiteten Melodiespiel eingesetzt. Diese Form des Rubato wurde besonders von dem Pianisten Frédéric Chopin gepflegt. Er spielte die Melodie leicht verzögert oder den Takt vorwegnehmend, während die Begleitung der linken Hand im Takt weiterspielte.

Ignaz Moscheles schrieb über Chopins Rubato-Spiel: "Er spielte mir auf meine Bitten vor, und jetzt erst verstehe ich seine Musik, erkläre mir auch die Schwärmerei der Damenwelt. Sein ad libitum-Spielen, das bei den Interpreten seiner Musik in Tactlosigkeit ausartet, ist bei ihm nur die liebenswürdigste Originalität des Vortrags; die dilettantisch harten Modulationen, über die ich nicht hinwegkomme, wenn ich seine Sachen spiele, choquiren mich nicht mehr, weil er mit seinen zarten Fingern elfenartig leicht darüber hingleitet; sein Piano ist so hingehaucht, daß er keines kräftigen Forte bedarf, um die gewünschten Contraste hervorzubringen; so vermisst man nicht die orchesterartigen Effecte, welche die deutsche Schule von einem Clavierspieler verlangt, sondern lässt sich hinreissen, wie von einem Sänger, der wenig bekümmert um die Begleitung ganz seinem Gefühl folgt; genug, er ist ein Unicum in der Clavierspielerwelt" (Moscheles 1873, S. 39).

Der Opernsänger Manuel Garcia gab in seiner Gesangsschule einen Überblick über den Übergang von der klassischen zur romantischen Tempogestaltung: "Die Compositionen von Haydn, Mozart, Cimarosa, Rossini u. a. verlangen in Hinsicht der rhythmischen Bewegung eine vollkommene Genauigkeit und jede den Geltungen gegebene Veränderung darf nur, ohne die Bewegung des Taktes zu verändern, aus der Anwendung des tempo rubato hervorgehen" (Garcia 1847, S. 36). "Die Musik von Donizetti und besonders die von Bellini enthält eine grosse Anzahl von Passagen, welche, ohne mit rallentando oder accelerando bezeichnet zu sein, doch deren Anwendung vertragen" (ebd. S. 37 Anm.). "Die augenblickliche Verlängerung eines oder mehrerer Töne zum Nachtheil der anderen nennt man das verschobene Zeitmaas. (...) Um die Wirkung des tempo rubato bei dem Gesange hervortreten zu lassen muss das Zeitmaas der Begleitung mit Bestimmtheit festgehalten werden. Der Sänger welchem es unter dieser Bedingung gestattet ist die theilweisen Geltungen zu vergrössern oder zu vermindern kann hiermit gewissen Sätzen ein ganz neues Colorit verleihen. Die accelerando und rallentando erfordern, dass die Begleitung und der Gesang miteinander übereinstimmend die Bewegung verzögern oder beeilen; das tempo rubato dagegen gestattet diese Freiheit nur dem Sänger allein" (ebd. S. 38).

Aus Garcias Darstellung wird deutlich, dass in der romantischen Musik die beiden Ausdrucksmittel Tempo rubato sowie Accelerando und Ritardando zunehmend Verwendung fanden. Während Garcia klar zwischen den beiden Formen der Tempoveränderung unterschied, wurde der Begriff "rubato" im allgemeinen Sprachgebrauch eher unscharf verwendet. Mit "rubato" konnte sowohl das "Verziehen" der Melodietöne gegenüber der Begleitung als auch eine generelle Beschleunigung oder Verlangsamung des Tempos gemeint sein. So beklagte sich Johann Nepomuk Hummel über "ein, bis zum Überdruss oft angebrachtes, willkührliches Dehnen (tempo rubato)" beim Klavierspiel (Hummel 1830, S. 426). Und der Rezensent eines Konzerts, das Johann Kaspar Mertz am 28. März 1843 im Wiener Musikvereinssaal gab, bemängelte: "... er leistet wirklich Ausgezeichnetes auf seinem Instrumente. Er besitzt eine große Geläufigkeit nebst schönem Vortrag, und nur ein zu häufiges Tempo rubato und ein übermäßiges Ausschmücken seiner Themen mit Beigaben aller Art wäre ihm zum Vorwurfe zu machen" (AWMZ 3 (1843), S. 162).

In der Tempogestaltung folgten die Gitarristen dem musikalischen Zeitgeschmack. Zahlreiche Werke für Gitarre enthalten agogische Anweisungen, so zum Beispiel die ersten Werke, die Giuliani 1807 veröffentlichte. Die Kunst der Tempoveränderung wurde wahrscheinlich direkt im Gitarrenunterricht vermittelt. Denn in den Gitarrenschulen wurde die Praxis des Ritardierens und der Beschleunigung nicht näher behandelt. Eine Ausnahme bildete Aguados Nuevo Método para Guitarra (1843). Hier wurde zumindest angedeutet, dass Temponuancierungen zum expressiven Gitarrenspiel gehören: "Wenn man allein spielt, erlaubt der Ausdruck in bestimmten kurzen Passagen eine leichte Veränderung des Zeitmaßes, mal durch Beschleunigung, mal durch Verlangsamung; in diesem Fall täuscht man für einen Moment sein Fehlen vor, um ihm dann mit der gleichen Genauigkeit wie zuvor zu folgen" (Aguado 1843, § 296 übers.). Zugleich wurde aber auch auf die Notwendigkeit hingewiesen, sich beim expressiven Gitarrenspiel an konkreten Vorbildern zu orientieren: "Schließlich sollte der Gitarrist bei verdienten Lehrern, gleichgültig auf welchem Instrument sie ihre Gefühle ausdrücken, nach Vorbildern für den Ausdruck suchen; er sollte ihnen mit großer Aufmerksamkeit zuhören und sich bemühen, sie nachzuahmen, bis es ihm gelingt, seinen eigenen Geschmack und Stil zu entwickeln" (ebd. § 297 übers.).