Die Interpunktion

1 Klangrede und syntaktische Strukturierung

Im 18. Jahrhundert wurde Musik in Analogie zur Sprache als Klangrede verstanden. Töne wurden als Silben aufgefasst, aus denen musikalische Wörter und Sätze gebildet wurden. Für musikalische Sätze galten die gleichen Interpunktionsregeln wie für Sätze der Schriftsprache. Das bedeutete, dass Tonstücke und die in ihnen enthaltenen musikalischen Gedanken durch Einschnitte strukturiert werden mussten. Darauf aufbauend entwickelte Johann Abraham Peter Schulz eine rhetorisch orientierte Theorie der Sinngliederung von Musikstücken, die in Sulzers Allgemeine[r] Theorie der Schönen Künste (1774) veröffentlicht wurde.

J. G. Sulzer: Allgemeine Theorie der schönen Künste Bd. 2. 1774. S. 1250f.
J. G. Sulzer: Allgemeine Theorie der schönen Künste Bd. 2. 1774. S. 1250f.

Um ein Stück in Sinneinheiten oder Phrasen zu gliedern, so Schulz, mussten "die Einschnitte aufs deutlichste und richtig marquiret werden. Die Einschnitte sind die Commata des Gesanges, die wie in der Rede durch einen kleinen Ruhepunkt fühlbar gemacht werden müssen. Dies geschieht, wenn man entweder die lezte Note einer Phrase etwas absezt, und die erste Note der folgenden Phrase fest wieder einsezt; oder wenn man den Ton etwas sinken läßt, und ihn mit Anfang der neuen Phrase wieder erhebt. Hört die Phrase mit einer Pause auf, so hat dieses keine Schwierigkeit; der Einschnitt marquirt sich von sich selbst" (Sulzer 1774, Sp. 1250). 

Die Einschnitte konnten auch innerhalb von Gruppen kleiner Notenwerte gesetzt werden: "Wenn der Einschnitt ... zwischen Achtel oder Sechzehntel fällt, die in der Schreibart gewöhnlich zusammengezogen werden, so pflegen einige Tonsezer die Noten, die zu der vorhergehenden Phrase gehören, von denen, womit eine neue anfängt, in der Schreibart von einander zu trennen, um den Einschnitt desto merklicher zu bezeichnen" (Sulzer 1774, Sp. 1250).

J. G. Sulzer: Allgemeine Theorie der schönen Künste Bd. 2. 1774. S. 1251.
J. G. Sulzer: Allgemeine Theorie der schönen Künste Bd. 2. 1774. S. 1251.

Bei längeren Noten konnte ein Stakkato-Zeichen angebracht werden, um das Ende einer Phrase zu markieren: "Aber bey Vierteln und halben Taktnoten könnte sie nicht angebracht werden, man müßte sich denn des Strichleins ' über der lezten Note der Phrase bedienen, wie auch hin und wieder von einigen geschieht" (Sulzer 1774, Sp. 1251).

In den Fällen, in denen keine Einschnitte markiert waren, musste man die "die Phrasen von zwey, drey oder mehrern Takten aus dem Zusammenhang der Melodie erkennen" (Sulzer 1774, Sp. 1251). Dabei war zu berücksichtigen, dass die Phrasen nicht in jedem Fall dem Metrum folgten: "Hiewieder wird am häufigsten in solchen Stüken gefehlet, wo die Phrasen in der Mitte des Takts, und zwar auf einer schlechten Zeit desselben anfangen; weil jeder gleich anfangs gewohnt wird, nur die guten Zeiten des Takts, auf welche die verschiedenen Accente des Gesanges fallen, vorzüglich zu marquiren, und die schlechten überhaupt gleichsam wie nur durchgehen zu lassen" (ebd.).

D. G. Türk: Klavierschule. 1789. S. 344.
D. G. Türk: Klavierschule. 1789. S. 344.

Daniel Gottlieb Türk (1750-1813) griff in seiner Klavierschule (1789) Schulz' Überlegungen auf und entwickelte sie zu einer Theorie der "musikalische[n] Interpunktion" weiter (Türk 1789, S. 340). Beispielsweise ließ er feinere Abstufungen der Phrasierung zu, indem er begrifflich zwischen "Periode", "Rhythmus", "Einschnitt" und "Zäsur" unterschied: "Ich habe schon oben gesagt, daß ein ganzes Tonstück füglich mit einer Rede verglichen werden könne; denn so wie diese in größere und kleinere Theile oder Glieder zerfällt, eben so verhält es sich in der Musik. Ein ganzer Theil, (Hauptabschnitt) eines größern Tonstückes ist ungefähr das, was man in der Rede unter einem ganzen Theile versteht. Eine musikalische Periode, (ein Abschnitt,) deren ein Theil mehrere haben kann, würde das seyn, was man in der Rede eine Periode nennt, und durch einen Punkt (.) von dem Folgenden absondert. Ein musikalischer Rhythmus kann mit den kleinern Redetheilen, die man durch ein Kolon (:) oder Semikolon (;) bezeichnet, verglichen werden. Der Einschnitt, als das kleinste Glied, wäre das, was in der Rede nur durch ein Komma (,) abgesondert wird. Wollte man hierzu die Cäsur noch besonders rechnen, so müßte man sie etwa mit der Cäsur eines Verses vergleichen. (Siehe Sulzers allg. Theorie: Einschnitt.)" (ebd. S. 343). "In den Beyspielen a) ist der Schluß eines musikalischen Theiles oder einer ganzen Periode ausgedruckt; die Beyspiele b) machen das Ende eines Rhythmus fühlbar; bei c) sind bloße Einschnitte angebracht, und die Pausen bey d), welche keine eigentliche Ruhe verstatten, mögen für Cäsuren gelten" (ebd, S. 344).

D. G. Türk: Klavierschule. 1789. S. 336.
D. G. Türk: Klavierschule. 1789. S. 336.

Trotz der feinen Differenzierung der musikalischen Sinneinheiten ging Türk nur auf die Periode näher ein. Jede Periode sollte, wie ein gesprochener Satz, mit einem Akzent beginnen: "Jeder Anfangston einer Periode sc. muß einen noch merklichern Nachdruck erhalten, als ein gewöhnlicher guter Takttheil. Genau genommen sollten selbst diese Anfangstöne mehr oder weniger accentuirt werden, je nachdem sich mit ihnen ein größerer oder kleinerer Theil des Ganzen anfängt; d.h. nach einem völligen Tonschlusse muß der Anfangston stärker markirt werden, als nach einer halben Kadenz, oder blos nach einem Einschnitte u.s.w. Hier ist ein Beyspiel in gedrängter Kürze" (ebd. S. 336). 

D. G. Türk: Klavierschule. 1789. S. 342.
D. G. Türk: Klavierschule. 1789. S. 342.

Auch sollte eine Periode mit einem Diminuendo enden, vergleichbar mit der fallenden Intonation am Ende eines Satzes. Der letzte Ton konnte verkürzt gespielt werden, so dass eine kleine Zäsur zwischen den musikalischen Abschnitten entstand: "Fühlbarer wird das Ende einer Periode, wenn man bey dem letzten Tone derselben den Finger sanft von der Taste abhebt, und den ersten Ton der folgenden Periode wieder etwas stärker angiebt. Folglich entsteht durch das erwähnte Abheben eine kleine Pause, welche in die Zeit der jedesmaligen letzten Note (der Periode) fällt (...). Hat der Komponist nach der letzten Note einer Periode selbst eine Pause angebracht (...) so ist die obige Anmerkung unnöthig; weil der Finger alsdann ohnedies abgehoben werden muß. Wiewohl man auch in diesem Falle der letzten Note eine etwas kürzere Dauer giebt, als es die eigentliche Geltung derselben erfordert. Daher ist die Ausführung bey d) noch gewöhnlicher, als die in dem Beyspiele c)" (ebd. S. 341f.).

In der Romantik hielt man am Konzept der musikalischen Interpunktion fest, wie ein Auszug aus Pierre Baillots L'Art du Violon (1835) zeigt: "Die Noten sind in der Musik dasjenige, was die Wörter in der Sprache sind, sie bilden Sätze, (Phrasen) welche einen Sinn geben. Sie können daher ebensowohl ihre Interpunktionen haben, wie eine geschriebene Rede, deren Perioden und Glieder sie abtheilen und leichter fasslich machen" (S. 163.). In seiner Violinschule hat Baillot die Regeln der musikalischen Interpunktion klar und übersichtlich dargestellt: 

1. Halbe Ruhe oder Komma: "Aber leichte Einschnitte, Pausen von geringer Dauer werden nicht immer von den Componisten bezeichnet. Darum kommt es dem Spieler zu, sie einzuführen, wenn er es für nöthig erachtet, er bricht alsdann entweder die letzte Note eines Gliedes oder die der ganzen Stelle ab."

2. Melodische Schlussnoten: "Bei den melodischen Schlüssen, geht der Schlussnote immer ein Vorschlag (Appoggiatur) oder eine davorgesetzte Note vorher; darum darf diese Schlussnote nicht stärker vernommen werden, als etwa das stumme E am Ende eines Wortes. (NB im Französischen.)"

3. Harmonische Schlussnoten: "Wenn der Schluss harmonisch ist, das heisst, wenn er ohne Vorschlag auf einer Note des Accords gemacht wird, so darf man dieser Note weder zu viel Härte noch zu viel Sanftheit geben, bis sie am Ende ihrer Dauer ist wo der Ton schwinden muss, um dadurch das Ende der Phrase oder des Stückes anzuzeigen."

4. Volle Ruhe oder Punkt: "Die volle Ruhe oder Schlüsse, welche in einer Rede durch einen Punkt bezeichnet werden, sind in der Musik weit besser vorbereitet, wenn man zugleich die Noten, welche die Stelle oder das Stück schließen, sanfter und langsamer spielt. Die volle Ruhe aber, welche auf harmonische Schlussnoten fällt, muss mit solcher Festigkeit ausgedrückt werden, das man mit Gewissheit empfindet, dass der Sinn der Stelle oder des Stücks so sicher schließt, als ob ein Punktum da wäre" (163f.).

2 Die klassische Achttaktperiode

Die klassische Achttaktperiode war ein Sonderfall der musikalischen Periode. Die Achttaktperiode bestand aus einem viertaktigen Vordersatz und einem viertaktigen Nachsatz. Der Vordersatz bestand aus einer zweitaktigen Phrase und einer zweitaktigen Gegenphrase und endete in der Regel auf der spannungsreichen Dominante (Halbschluss). Der Nachsatz hingegen bestand aus einer zweitaktigen Wiederholung der ersten Phrase und einer zweitaktigen Schlussphrase. Er endete auf der beruhigenden Tonika (Ganzschluss) (Lehrklaenge: Die klassische Periode). Durch die Einfügung eines Zwischensatzes konnte die Achttaktperiode zu einer Zwölftaktperiode mit Vor-, Zwischen- und Nachsatz erweitert werden.

Charakteristisch für die achttaktige Periode sind der symmetrische Aufbau, die gleichmäßige Gliederung, das Verhältnis von Spannung und Lösung und die in sich ruhende Geschlossenheit.

3 Die Interpunktion in der Gitarrenmusik

In den Gitarrenschulen des frühen 19. Jahrhunderts war das Thema Interpunktion kaum präsent. Die meisten Lehrwerke richteten sich an Anfänger und vermittelten nicht mehr als musikalische Grundkenntnisse. Nur in Gitarrenschulen, die relativ hohe Anforderungen an die Lernenden stellten, wurden Fragen des musikalischen Vortrags, der Phrasierung und der Interpunktion ausführlicher behandelt. Zu diesen Schulen gehörten Doisys Principes Généraux de la Guitare (1801) und Aguados Nuevo Método para Guitarra (1843).

Doisy, François: Principes Généraux de la Guitare. 1801. S. 56.
Doisy, François: Principes Généraux de la Guitare. 1801. S. 56.

François Doisy beklagte den Missstand, dass die Phrasierung im Gitarrenunterricht kaum eine Rolle spielte: "Nur wenige Lehrer zeigen es ihren Schülern; daher phrasieren die meisten von ihnen nie, wenn sie etwas aufführen; denn nur wenige sind von Natur aus mit der dazu nötigen Organisation begabt" (Doisy 1801, S. 56 übers.). In seiner Gitarrenschule erläuterte er in Anlehnung an Matthesons Konzept der Klangrede die Bedeutung der Interpunktion für die Phrasierung: „Es besteht eine sehr große Analogie zwischen dem Gesang und der Rede, da beide in Sätze und Satzteile gegliedert sind. Der Geist empfindet eine große Ruhe am Ende jedes Satzes einer Rede, und eine geringere am Ende jedes Satzteils. Das Ohr empfindet eine ähnliche [Ruhe] am Ende jeder vollkommenen musikalischen Phrase, und eine geringere am Ende jedes Teils einer Phrase. Beim Komponieren und Aufführen von Musik sollte man auf diese Analogie achten und die Pausen deutlich wahrnehmbar machen“ (ebd.). Dementsprechend forderte er, musikalische Phrasen durch Einschnitte zu kennzeichnen: "Zu einem schönen und richtigen Vortrage wird vorzüglich erfordert, die Abschnitte der musikalischen Phrasen gehörig zu bezeichnen und auszudrücken. Sie sind das, was das (,) (;) und (.) in der Rede ist, und werden also auch weniger oder mehr fühlbar gemacht" (Doisy 1802, S. 57). An einem Notenbeispiel mit achttaktigen Perioden machte er deutlich, wie ein Musikstück durch Pausen gegliedert werden kann: "Die Pausen, die auf den Noten D, M liegen, sind sehr markant, entsprechen denen, die am Ende der Sätze einer Rede stehen, und befriedigen das Ohr; wohingegen die Pausen, die auf den Noten A, B, C, E, F, G, H, J, K, L liegen, nur weniger markante Pausen bilden, die nur Satzteilen einer Rede entsprechen, und das Ohr nur unvollkommen befriedigen" (Doisy 1801, S. 57 übers.).

Dionisio Aguado erklärte die Interpunktion am Beispiel der Achttaktperiode, die sich aus "Gedanken" (ideas) und "Sätzen" (fraseszusammensetzt: "Die Musik ist eine Sprache, und sie hat ihre Gedanken, aus denen Sätze gebildet werden, und aus diesen [Sätzen] werden Perioden gebildet. Im Allgemeinen wird jeder musikalische Gedanke in zwei aufeinanderfolgenden Takten ausgedrückt: Der Gedanke beginnt im ersten Takt und endet in der Mitte oder am Ende des zweiten [Taktes]. Sein Ende muss piano sein, damit er von einem anderen Gedanken unterschieden werden kann. Ein Satz kann aus zwei Gedanken und somit aus vier Takten bestehen, sein Ende muss aus dem eben genannten Grund piano sein. Wenn man den Satz forte beginnt, d. h. im ersten Takt, und die Lautstärke allmählich bis zu ihrem Ende, d. h. im vierten Takt, verringert, erhält er einen gewissen Sinn; man muss aber auch die Richtung berücksichtigen, die die Noten der einzelnen Gesangsstimmen im Satz haben: wenn sie ansteigen, wird der Klang im Allgemeinen verstärkt, ebenso wie er abschwächt wird, wenn sie fallen. Diese Überlegung gilt auch für jeden Gedanken, unbeschadet der Tatsache, dass die Noten, die auf die erste Zeit fallen, stärker empfunden werden müssen als die, die auf die zweite [Zeit fallen]" (Aguado 1843, § 291 übers.). "Man kann den Sinn des Gedankens auch unterteilen, indem man das Forte und Piano auf die aliquoten Teile eines Taktes anwendet, d. h. auf jede Zeit und sogar auf jede halbe Zeit. Die Richtschnur dafür ist der Ausdruck, den man der Musik geben will, diktiert von gutem Geschmack und Feingefühl" (ebd. § 293 übers.).


Anhang

Literaturverzeichnis

Baillot, P[ierre]: L'Art du Violon. Nouvelle Méthode. Dédiée À ses Élèves. Traduction allemande par J. D. Anton. Mayence et Anvers: Les fils de B. Schott, [1835].

Sulzer, Johann George: Allgemeine Theorie der Schönen Künste in einzeln, nach alphabetischer Ordnung der Kunstwörter auf einander folgenden, Artikeln abgehandelt. Zweyter Theil, von K bis Z. Leipzig: M. G. Weidmanns Erben und Reich, 1774.

 

Türk, Daniel Gottlob: Klavierschule, oder Anweisung zum Klavierspielen für Lehrer und Lernende, mit kritischen Anmerkungen. Leipzig/Halle: Schwickert, Hemmerde und Schwetschke, 1789.