Noten und Notationszeichen bilden die materielle Grundlage der musikalischen Interpretation. Ohne sie wäre es heute unmöglich, Werke aufzuführen, die zu Beginn des 19. Jahrhunderts komponiert wurden. Sie liegen in geschriebener oder gedruckter Form vor. Ein Gitarrist musste sich damals keine Gedanken darüber machen, welche Noten er seinem Spiel zugrunde legen sollte. Er benutzte ganz selbstverständlich die im Musikalienhandel erhältlichen Notendrucke oder die in Musikerkreisen kursierenden Abschriften. Heute hingegen hat der Interpret die Qual der Wahl. Er hat die Wahl zwischen Handschriften, alten Drucken und deren Reproduktionen, kritischen Urtextausgaben und modernen Notenausgaben.
Die Frage, welches Notenmaterial der Interpret klassisch-frühromantischer Gitarrenmusik verwenden sollte, ist auf den ersten Blick einfach zu beantworten: die Originalhandschriften der Komponisten. Nur hier kann man sich sicher sein, dass das Notenmaterial dem unverfälschten Willen des jeweiligen Komponisten entspricht. Allerdings sind die Manuskripte bedeutender Gitarrenkomponisten nur selten erhalten geblieben. Eine Ausnahme bildet die Zeit vor 1817 in Spanien. Damals war der Notendruck noch unterentwickelt und die meisten Gitarrenwerke und -schulen wurden in Manuskriptform verbreitet. Vor allem während des Spanischen Unabhängigkeitskrieges kam der Notendruck zum Erliegen. Erst als sich der deutsche Kupferstecher Bartolomé Wirmbs in Madrid niederließ, erlebte das Musikverlagswesen einen Aufschwung. Mit Unterstützung der Real Sociedad Económica Matritense de Amigos del País gründete er eine Druckerei, die 1817 in der Calle del Turco ihren Betrieb aufnahm (vgl. Briso de Montiano 2018, S. 31).
In der Regel muss auf alte Drucke der Werke zurückgegriffen werden. Diese befinden sich in Musikbibliotheken in ganz Europa. Teilweise sind sie nur mit großem Aufwand im Original zugänglich. Viele Notendrucke liegen aber auch in digitalisierter Form vor, z. B. in der Musikabteilung der Bayerischen Staatsbibliothek, in der Boijes Samling der Musik- und Theaterbibliothek in Stockholm, in der Rischel & Birket-Smith Samling der Königlichen Bibliothek in Kopenhagen oder in der Robert Spencer Collection der Royal Academy of Music in London. Da digitale Archive nicht immer die ältesten Drucke enthalten, stellen professionell edierte Faksimile-Ausgaben der Erstausgaben eine sinnvolle Alternative dar.
Der Rückgriff auf die ältesten verfügbaren Drucke hat jedoch auch Nachteile. Zum einen kann man sich nicht sicher sein, ob der Komponist sie überprüft und gegebenenfalls korrigiert hat. Alte Drucke sind nicht selten fehlerhaft. Wer mit ihnen arbeiten will, kommt nicht umhin, den Notentext kritisch auf Fehler zu überprüfen. Hilfreich bei der Fehlersuche sind Wiederholungen im Notentext. So kann z. B. eine musikalische Passage fehlerhaft sein, während ihre Wiederholung korrekt abgedruckt ist. Auch der Vergleich verschiedener Druckausgaben kann bei der Fehlersuche hilfreich sein. Ansonsten bedarf es eines feinen Gespürs, um zu erkennen, ob eine bestimmte Note oder Vortragsbezeichnung im musikalischen Kontext Sinn macht oder nicht. Die Herausgeber von Faksimile-Ausgaben weisen in der Regel auf offensichtliche Druckfehler hin. Dies entbindet den Interpreten jedoch nicht von der Aufgabe, den Notentext auf weitere Fehler hin zu untersuchen. Ein weiterer Nachteil besteht darin, dass die Qualität alter Notendrucke nicht immer sehr hoch ist und manche schlecht lesbar sind. Drittens entspricht die Notation alter Gitarrenwerke nicht den heutigen Standards, so dass eine gewisse Unsicherheit hinsichtlich der musikalischen Interpretation besteht.
Wem das Studium alter Notendrucke zu mühsam ist, der kann - zumindest bei einigen Gitarristen - auf sogenannte Urtextausgaben zurückgreifen. Urtextausgaben sind Rekonstruktionen dessen, was der Komponist wirklich schreiben wollte, und werden in moderner Notation herausgegeben. Das nimmt dem Interpreten viel Arbeit ab. Allerdings muss man sich darüber im Klaren sein, dass die editorischen Entscheidungen, die einer Urtextausgabe zugrunde liegen, nicht unbedingt korrekt sind. Die Intentionen des Komponisten können durch die Umgestaltung des Notentextes verfälscht worden sein. Letztlich ist auch hier der Interpret gefordert, das Ergebnis kritisch zu hinterfragen und die Entscheidungen des Herausgebers zu überprüfen. Dies gilt umso mehr für moderne Notenausgaben klassischer und frühromantischer Werke. Sie eignen sich nur selten als Grundlage für eine historisch informierte Aufführung, wohl aber für die Erforschung der Interpretationspraxis des späten 19. und des 20. Jahrhunderts.
Die Notation von Gitarrenmusik im späten 18. und frühen 19. Jahrhundert unterschied sich zum Teil erheblich von der heutigen. Sie war auch nicht standardisiert, sondern einem ständigen Wandel unterworfen. Der Musikwissenschaftler Thomas F. Heck unterscheidet in seinem Werk Mauro Giuliani: Virtuoso Guitarist and Composer (1995) drei Formen oder Stufen der Notation: eine primitive, eine mittlere und eine fortgeschrittene Form der Notation (vgl. S. 140-149).
Die primitive Form der Notation löste im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts die Lauten- und Gitarrentabulatur ab. Anstelle von Griffzeichen auf einer schematischen Abbildung des Griffbretts wurde nun ein Notensystem mit Violinschlüssel verwendet, obwohl der Klang der Gitarre eine Oktave tiefer lag als der der Violine. Die Gitarrennotation orientierte sich an der einstimmigen Notation der Violine, nicht zuletzt, weil viele Gitarristen zu dieser Zeit auch Geiger waren. Die Noten standen eng beieinander. Stimmführung und Vortragsart waren nicht erkennbar. Bassnoten waren weder durch einen nach unten gerichteten Hals gekennzeichnet, noch wurde ihr tatsächlicher Notenwert angegeben. Zu bedenken ist, dass gedruckte Notenausgaben im 18. Jahrhundert aufgrund des aufwendigen Herstellungsverfahrens teuer waren und man versuchte, die Material- und Druckkosten so gering wie möglich zu halten. Heck bezeichnete diese Notation als präskriptiv, da sie seiner Meinung nach die Position der Greiffinger festlegte. Dies ist jedoch nicht richtig. Präskriptiv war die Tabulatur, die vorschrieb, welcher Bund auf welcher Saite zu greifen war. Die "primitive" Notation hingegen vermittelte eine vage Vorstellung vom musikalischen Ergebnis und überließ dessen Realisierung dem Spieler. Insofern war sie beschreibend, wenn auch unzureichend.
Diese Notation findet sich in fast allen Methoden, die in Frankreich vor 1800 für die fünfchörige und fünfsaitige Gitarre geschrieben wurden. Der Italiener Giacomo Merchi erklärte in Le Guide des Ecoliers de Guitarre (1761), warum er in seinen Werken ganz auf die Tabulatur verzichtete: "Diejenigen, die nur die Tabulatur kennen, spielen und begleiten nur routinemäßig und ohne Takt. Diejenigen, die die Tabulatur erfolgreich anwenden, waren schon gute Musiker, bevor sie sie kannten, und brauchten sie nicht. Diese Gründe haben mich dazu bewogen, sie in diesem Werk zu streichen. Wenn man mir entgegenhält, dass sie notwendig ist, um die Positionen zu markieren, antworte ich, dass die Violine, das Violoncello etc. keine Tabulatur haben und dass die Gitarre sie weniger braucht als sie, da sie Bünde hat" (S. IV übers.). Der Pariser Verleger Antoine Bailleux war etwas vorsichtiger und stellte in der von ihm herausgegebenen Méthode de Guittarre par Musique et Tablature (1773) Notensystem und Tabulatur nebeneinander.
Für die sechssaitige Gitarre wurde die Notation zunächst unverändert übernommen. Sie findet sich unter anderem bei François Doisy, Felice Chabran, Bartolomeo Bortolazzi und Mathieú Bevilacqua. Selbst Ferdinando Carulli verwendete sie in seiner Méthode Complette pour Guitare ou Lyre (1810). In der zweiten Ausgabe seiner Gitarrenschule von 1819 änderte er sie leicht ab, verwendete sie aber weiterhin für Arpeggien, da sie leichter zu lesen war. Zur Erläuterung wies er darauf hin, dass die angegebenen Notenwerte nicht den tatsächlichen entsprachen: "Um ein Musikstück auf der Gitarre gut wiederzugeben, muss man bei den Bassnoten, die nicht offen sind, den Finger so lange auf der Saite lassen, bis eine andere Note das Anheben des Fingers erzwingt" (S. 10 übers.). Auch Francesco Molino und August Harder notierten die Arpeggien noch in der ursprünglichen Schreibweise (vgl. Molino 1813, S. 14; Harder 1819, S. 76).
Für melodische Kompositionen und arpeggierte Begleitungen eignete sich die primitive Notationsform hervorragend. Wollte man jedoch die polyphonen Möglichkeiten der sechssaitigen Gitarre ausschöpfen, stieß man schnell an Grenzen. Bereits um 1800 begann man, die Notation für das neue Instrument zu überarbeiten. Zu dieser Zeit wurde auch das lithografische Druckverfahren entwickelt. So konnten zu Beginn des 19. Jahrhunderts preisgünstigere Notenausgaben auf dem stetig wachsenden Musikalienmarkt angeboten werden.
Nach Heck entstand eine weitgehend deskriptive Gitarrennotation, die mehr oder weniger den tatsächlichen Verlauf der einzelnen Stimmen beschrieb. Die Stimmführung wurde sichtbar gemacht, indem Ober- und Unterstimme durch unterschiedliche Halsrichtungen getrennt wurden. Außerdem wurden die tatsächlichen Notenwerte und Pausen in den Stimmen angegeben. Tatsächlich enthielt die "mittlere" Notation, wie Heck sie nannte, mehr präskriptive Elemente wie Lagen, Fingersätze und Vortragsbezeichnungen als die "primitive" Notation. Zielgruppe der Verlage war das stark wachsende bürgerliche Laienpublikum. Dieses erwartete Notenausgaben, die auch weniger geübten Spielern Hilfestellung boten und das Blattspiel ermöglichten. Es ist also nicht so, dass eine deskriptive Notation eine zuvor präskriptive ablöste, sondern dass eine unzureichend deskriptive Notation verbessert und mit präskriptiven Elementen versehen wurde. Als Erfinder der neuen Notation werden in der Forschungsliteratur mehrere Gitarristen genannt: Federico Moretti, Jean-Baptiste Phillis und Simon Molitor.
1. In der spanischen Forschungsliteratur wird Federico Moretti häufig als Schlüsselfigur in der Entwicklung des modernen Notationssystems für Gitarre genannt. Moretti war ein italienischer Offizier in der spanischen Guardia Wallona. Aguado und Sor rühmten ihn als Erfinder der neuen Gitarrennotation. Im Vorwort zu Aguados Escuela de Guitarra (1825) heißt es: "Don Federico Moretti war der erste, der anfing, Gitarrenmusik so zu schreiben, dass man zwei Teile unterscheiden konnte, einen für den Gesang und einen für die Begleitung" (S. 1 übers.). Und Sor berichtet in seiner Méthode pour la Guitare (1830), wie seine Begegnung mit Morettis Musik während seines Studiums an der Real Academia Militar de Matemáticas y Fortificación in Barcelona zu einem entscheidenden Moment in seiner Karriere als Gitarrist wurde: "Ich hörte eine seiner Begleitungen, die ein Freund von ihm spielte, und der Basslauf sowie die Harmoniepartien, die ich darin erkannte, gaben mir eine hohe Vorstellung von seinem Verdienst; ich betrachtete ihn als die Fackel, die dazu dienen sollte, den Irrweg der Gitarristen zu erleuchten" (S. 3 übers.)1.
Morettis frühes Werk Trois Rondeaux pour la Guitare ou Lyre op. 4 vermittelt einen Eindruck von der neuen Notation. Es erschien um 1810 bei dem spanischen Verleger Salvador Castro in Paris, der die neue Notation sogleich in seine Méthode de Guitare ou Lyre (1810) übernahm. Ober- und Unterstimme sind hier durch unterschiedliche Halsrichtungen getrennt. Ansonsten ähnelt die neue Notation der alten. Obwohl Moretti sicherlich die Idee zu dieser Notationsform hatte, war er nicht ihr Erfinder. Bereits im 18. Jahrhundert gab es in Paris Gitarristen, die die Stimmführung durch die Ausrichtung der Notenhälse verdeutlichten.
2. Der Musikwissenschaftler und Verleger Matanya Ophee stellte 1983 in einem Artikel in der Zeitschrift Guitar & Lute den Franzosen Jean-Baptiste Phillis als Erfinder der "modernen" Gitarrennotation vor. Den entscheidenden Hinweis verdankte er François Doisy, der sich in seinem Lehrwerk Principes Généraux de la Guitare (1801) darüber beklagte, dass einige Lehrer die Gitarrenmusik nach Art der Harfe und des Klaviers notierten (vgl. S. 56). Ophee vermutete, dass Doisy mit seiner Kritik auf die angeblich verschollene Méthode courte et facile von Phillis anspielte, die 1797 und dann in überarbeiteter Form 1802 als Nouvelle Méthode pour la Lyre ou Guitarre a Six Cordes erschienen sein soll (S. 250f.).
Tatsächlich bezog sich Doisy auf die bereits 1799 erschienene Nouvelle Méthode von Phillis, wie der Musikwissenschaftler Calvin Elliker festgestellt hat (vgl. 2002). Im Untertitel der Gitarrenschule wird eine Nouvelle Manière de Noter à l'instar de la Harpe et du Piano vorgestellt. Die Méthode courte et facile erschien 1803 und enthielt ebenfalls die neue Notationsweise. Trotz der bibliografischen Fehler hatte Matanya Ophee Recht mit seiner Behauptung, dass Jean-Baptiste Phillis kurz vor der Jahrhundertwende eine "moderne" Gitarrennotation mit Bass- und Diskantstimme verwendete.
Phillis war jedoch nicht der Erfinder dieser Notation. Schon Pierre Joseph Baillon hatte in seiner Nouvelle Méthode de Guitare (1780) eine präzisere Gitarrennotation gefordert: "Es wäre wünschenswert, dass die Autoren die Musik für dieses Instrument so schreiben, wie man sie für die Harfe und das Fortepiano schreibt, d. h. dass die Bassnoten von der Art sind, die ihre Dauer erfordert, wie die runde, die weiße etc." (S. 4f. übers.). In den Gitarrenstücken am Ende seiner Methode stellt der Franzose den Verlauf der Ober- und Unterstimme durch die jeweilige Richtung des Notenhalses dar und gibt die genauen Notenwerte an. Für die fünfchörige und fünfsaitige Gitarre konnte sich diese Notation jedoch nicht durchsetzen2. Da die Töne dieses Instruments schnell verklangen, nahm man es mit der Notation der Tondauer nicht so genau und verwendete kürzere Notenwerte als üblich. Jean-Baptiste Phillis war der erste, der die neue Notation für die sechssaitige Gitarre verwendete.
3. Peter Schmitz hat sich 1994 in einem Aufsatz in der Zeitschrift Gitarre & Laute kritisch mit der spekulativen These von Matanya Orphee auseinandergesetzt, der Verleger Ignaz Pleyel habe 1805 die von ihm herausgegebene Nouvelle Méthode und andere Werke von Jean-Baptiste Phillis nach Wien gebracht und dort die neue Gitarrennotation bekannt gemacht. Zu Recht wies er darauf hin, dass der deutsche Gitarrist Simon Molitor diese Notationsform bereits 1804 in Wien für seine Grande Sonate pour la Guitare et Violon Concertans op. 3 verwendet hatte (vgl. S. 19). Im direkten Vergleich wirkt Molitors Notation zudem aufgeräumter, einheitlicher und durchdachter als die von Phillis. Sie unterscheidet zwischen Ober-, Mittel- und Unterstimme und enthält Haltebögen und detaillierte Vortragsbezeichnungen. Es ist unwahrscheinlich, dass er sich von Phillis' Gitarrenwerken inspirieren ließ3. 1806 beanspruchte Molitor auch offiziell die Einführung der neuen Schreibweise für sich. Im Vorwort zu seiner Große[n] Sonate für die Guitare allein op. 7 heißt es: "Zur Rechtfertigung der von mir angenommenen Schreibart … welche zwar nicht die für die Guitare gebräuchliche, sondern vielmehr dem Klavier eigen ist, glaube ich behaupten zu dürfen, dass nur diese Schreibart die Accorde und das Maas der Klänge für den Spieler sowohl als für den blossen Musikkenner richtig darstellt; da hingegen die gewöhnliche Schreibart nicht viel mehr als den blossen mechanischen Fingersatz ausdrückt, und ein musikalisches Auge … beleidigen" (S. 14). In seinem Versuch einer vollständigen methodischen Anleitung zum Guitare-Spielen (1812) berichtet Molitor schließlich, dass die besten Gitarristen Wiens - Matiegka, Diabelli und Giuliani - die von ihm erfundene Notation übernommen hätten und dass sie sich inzwischen als Standardnotation für die Gitarre durchgesetzt habe.
Der italienische Virtuose Mauro Giuliani, der gegen Ende 1806 nach Wien kam, verwendete tatsächlich die neue Notation für seine Werke. Ob er sie von Molitor übernommen hat, lässt sich nicht feststellen. In gewisser Weise blieb seine Notation hinter den von Molitor gesetzten Standards zurück. Giuliani bevorzugte, wie Thomas F. Heck es formuliert, eine note-nere-Notation (vgl. 1995, S. 145). Das bedeutet, dass er halbe Noten vorzugsweise als Viertelnoten darstellte, wobei der fehlende Notenwert durch ein Pausenzeichen ersetzt wurde. Giuliani orientierte sich dabei an der für die "primitive" Notation typischen Schreibweise. Pausenzeichen konnten bei Giuliani also zwei Funktionen haben: Sie konnten entweder echte Pausen anzeigen oder aber Stellen, an denen Noten ausklingen sollten. In einigen Fällen notierte Giuliani auch halbe oder ganze Noten. Dann musste man die Saite stärker anschlagen und den Greiffinger so lange auf ihr ruhen lassen, wie es der Notenwert erforderte.
Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass es nicht ein einzelner Gitarrist war, der um 1800 die konventionelle Gitarrennotation überarbeitete. Vielmehr wurde fast zeitgleich in den Musikmetropolen Paris und Wien sowie in Spanien und Italien die Unzulänglichkeit der Notation erkannt und an ihrer Verbesserung gearbeitet4. Obwohl sich die alte Notation um 1780 gegenüber der Tabulatur durchgesetzt hatte, war sie nicht von langer Dauer, da sie das musikalische Potenzial der neuen sechssaitigen Gitarre nicht in ein adäquates Zeichensystem fassen konnte. Simon Molitors Notation zeichnete sich durch ihre Klarheit und Differenziertheit aus. Sie war ihrer Zeit um gut zehn Jahre voraus. Fernando Sors Opus 3, Air Varie pour la Guitare, das um 1810 in Paris bei Salvador Castro erschien, erreichte beispielsweise die Qualität von Molitors Notation. Üblich war damals jedoch eine Mischform aus alter und neuer Notation. Auch in Deutschland dauerte es einige Zeit, bis sich die neue Schreibweise durchsetzte. So schrieb Johann Christian Gottlieb Scheidler in den 1810er Jahren noch überwiegend in der alten Notation, während Carl Blum bereits die neue verwendete.
In der Mitte des 19. Jahrhunderts erreichte die Gitarrennotation nach Heck ein "fortgeschrittenes" Stadium, da sie die tatsächlichen Werte langer Noten genau angab. Eine solche Notation findet sich nach Heck bei Napoléon Coste, der die Notenwerte auch über die Taktgrenzen hinaus durch Haltebögen darstellte. Er trug damit der Tatsache Rechnung, dass durch Verbesserungen im Gitarrenbau ein längerer Nachklang erreicht werden konnte. Ob allein dadurch die Gitarrennotation auf ein qualitativ höheres Niveau gehoben wurde, ist allerdings zweifelhaft. Taktüberschreitende Haltebögen finden sich bereits bei Molitor und Sor. Molitors Große Sonate für die Guitare allein op. 7 enthält sogar ausführliche Anmerkungen zu anhaltenden und zusammengebundenen Noten, so dass man nicht umhin kommt, ihn als den eigentlichen Urheber der "fortgeschrittenen" Notation zu bezeichnen.
Zwischen der Notation von Coste und der von Molitor und Sor lassen sich jedoch graduelle Unterschiede feststellen. Coste unterschied nicht nur deutlich zwischen Ober-, Mittel- und Unterstimme, sondern fügte auch zahlreiche Vortragsbezeichnungen für Dynamik, Agogik und Artikulation in seine Werke ein. Mit seiner präzisen und differenzierten Notation ermöglichte er dem Interpreten ein sicheres Verständnis seiner Werke und gab ihm das Werkzeug für ein ausdrucksstarkes und nuanciertes Spiel in die Hand. Dies war auch notwendig, um dem romantischen Zeitgeist entsprechende Charakterstücke zu schreiben. Was sich also in der Mitte des 19. Jahrhunderts geändert hatte, war die Musik, die neue Anforderungen an die Komponisten stellte, nicht aber die Prinzipien, die Molitor für die Gitarrennotation aufgestellt hatte, nämlich musikalische "Sätze orthographisch richtig und zugleich für das Auge deutlich darzustellen" (1806, S. 14 Anm.). Molitor hatte diese Prinzipien für die klassische Gitarrenmusik vorbildlich umgesetzt, Sor für die klassisch-frühromantische und Coste für die romantische.
Simon Molitor entwickelte die neue Notation, um anspruchsvollere Gitarrenwerke komponieren und aufführen zu können, die auch den Kenner zufrieden stellen. Letztlich wollte er damit der Gitarre einen höheren Stellenwert in der Musikwelt zu verschaffen. Er war sich aber bewusst, dass auch die beste Notation noch keine Garantie für eine überzeugende Aufführung war: "Wer überhaupt auf Geschmak im Vortrage einigen Anspruch machen will, muss den Karakter eines jeden Musikstükes genau kennen, und zu beurtheilen fähig seyn, um ihm die gehörige Farbe geben zu können. Zu diesem Ziele gelanget man nur durch reelle Musikkenntniss, durch vieles Hören besserer Musik, richtige Zergliederung ihrer Karakterzüge und durch reines Gefühl für fliessenden Gesang. Hier hilft all das ängstliche Jagen nach Schwürigkeiten nichts - es bleibt, wo der Geschmak fehlt, blos kalte mechanische Arbeit ohne Herz und Kopf" (S. 23). Eine solide Gitarrenkomposition musste mit Herz und Verstand vorgetragen werden, um den Kenner zu überzeugen. Sie musste etwas zu sagen haben. Die mechanische Umsetzung des Notierten genügte dazu nicht.
Molitors Beitrag war Teil eines breiteren musikwissenschaftlichen Diskurses, in dem sich in Anlehnung an 2 Kor 3,6 der Topos vom lebendigen Geist und toten Buchstaben herausgebildet hatte. Die Noten in der Tonschrift wurden mit den Buchstaben in der Sprachschrift verglichen. Als sichtbare Zeichen für Tonhöhen und Tondauern konnten sie Melodien bilden wie Buchstaben ganze Sätze. Doch was die Zeichen zu einem bedeutungsvollen Ganzen verband, war der Geist. Erst durch ihn wurden Musik und Sprache zu Bedeutungsträgern. Der musikalische Vortrag hatte ebenso wie der gesprochene die Aufgabe, den Geist eines Werkes lebendig zu erfassen und zu vermitteln. So forderte der Musiktheoretiker Heinrich Christoph Koch in seinem Musikalische[n] Lexikon (1802): "So vollständig und bestimmt unsere Tonschrift in Ansehung der Darstellung der Töne in Rücksicht auf Höhe und Zeitdauer ist, so kann dennoch genau genommen weiter nichts, als gleichsam der tode Buchstabe eines Tonstückes dadurch vorgestellet werden. Dasjenige, wodurch der Geist desselben beym Vortrage fühlbar gemacht werden muß, wird sich niemals durch Zeichen völlig darstellen lassen" (Sp. 52f.). Bestimmte Aspekte des Vortrags wie Temponuancen, dynamische und artikulatorische Freiheiten oder improvisatorische Verzierungen konnten nicht notiert werden. Der Interpret musste sie aber berücksichtigen, wenn er das volle Wirkungspotenzial einer Komposition ausschöpfen wollte.
Der Komponist August Eberhard Müller führte diesen Gedanken in seiner Klavier- und Fortepiano-Schule (1804) weiter, indem er die Dichotomie von Geist und Buchstaben aufhob. Er verlangte vom Interpreten zunächst, das Musikstück genau so zu spielen, wie es geschrieben steht, "in Absicht auf den Buchstaben" (S. 295), also in Absicht auf das, was die Noten und andere Zeichen vorschreiben. Nur dann sei sein Vortrag richtig. Danach aber müsse er den Charakter des Musikstückes erfassen, sich in die "Gemüthsstimmung" (S. 297) versetzen, in der der Komponist es geschrieben hat, und sein ganzes Spiel davon bestimmen lassen. Erst dann werde sein Vortrag ausdrucksvoll und schön. Was einen schönen Vortrag ausmache, lasse sich aber nicht notieren oder in Regeln fassen. Um es zu erfassen, bedürfe es des richtigen Gefühls und des Geschmacks. Um diesen zu schulen, müsse man gut vorgetragene Musik so oft wie möglich hören und hinsichtlich der eingesetzten Mittel analysieren. Damit gab Müller dem klassischen Diskurs eine romantische Wendung, indem er an die Stelle des geistvollen Vortrags den ausdrucksvollen und schönen Vortrag setzte. Louis Spohr, der Müllers Sohn Theodor Amadeus im Geigenspiel unterrichtete, sollte seine Lehre vom richtigen und schönen Vortrag fast wörtlich in seine Violinschule (1832) übernehmen. Unschwer ist zu erkennen, dass Simon Molitor noch dem klassischen Ideal der Harmonie von Gefühl und Verstand verpflichtet war und den musikalischen Vortrag nicht als reine Gefühlssache betrachtete.
1 Der biografische Artikel Sor in der Encyclopédie pittoresque de la musique (1835) beschreibt das Erlebnis genauer: "Zu dieser Zeit hörte er den Bruder des Generals Solano ein Stück auf der Gitarre spielen, in dem man einen Gesang und eine Begleitung erkennen konnte. Der Autor des Stückes war Moretti, ein Offizier der Wallonischen Garde, der als erster den wahren Charakter der Gitarre erkannte. Morettis Musik eröffnete Sor einen neuen Weg, und mit ein wenig Arbeit und der Anwendung seiner Harmoniekenntnisse gelang es ihm bald, Musik mit mehreren echten Stimmen zu schreiben und aufzuführen" (S. 164 übers.).
2 François Doisy bevorzugte die alte Notation aus Gründen der Lesbarkeit sowie aus drucktechnischen und verlegerischen Gründen, obwohl er die Vorteile der neuen Notation anerkannte: "Es gibt jedoch Umstände, unter denen ich diese Methode gerne annehme, ja sogar bevorzuge, wenn ich darin nicht weniger Klarheit für den Leser und mehr Verlegenheit für den Stecher oder Kopisten sehe. Nämlich dann, wenn die Gitarre singt. Bsp. C., dann würde ich mit Vergnügen sehen, dass der Bass sich deutlich von der Singstimme unterscheidet, die perfekt gefühlt werden muss, um den richtigen Ausdruck zu geben" (1801, S. 56 übers.).
3 Simon Molitor hatte keine hohe Meinung von den "Produkte[n], womit besonders gewisse französische Professoren dieses Instruments uns seit einigen Jahren überschwemmen" (1806, S. 14).
4 Ein weiteres Beispiel zeigt, dass zu dieser Zeit in verschiedenen Teilen Europas unabhängig voneinander an der Gitarrennotation gearbeitet wurde. So schlug François Doisy in seinem Lehrwerk Principes Généraux de la Guitare (1801) vor, die Musik für die Lyragitarre nach dem Vorbild der Harfe und des Klaviers in zwei Systemen zu notieren, im Violin- und im Bassschlüssel (vgl. S. 70f.). Simon Molitor überlegte in der Vorrede zu seiner Große[n] Sonate für die Guitare allein (1806), "ob man nicht - um manche Sätze orthographisch richtig und zugleich für das Auge deutlich darzustellen - sich zweyer Linien, wie beim Klavier bedienen sollte, deren untere mit dem gewöhnlichen Bassschlüssel eigentlich dem Bass, die obere aber mit dem Tenorschlüssel dem Gesang und den Mittelstimmen gewidmet wäre" (S. 14 Anm.). Und Fernando Sor wagte in seiner um 1814 erschienenen Fantaisie op. 7 das Experiment, Gitarrenmusik in ihrer tatsächlichen Tonhöhe in zwei Systemen zu notieren. Die Anregung dazu kam vermutlich von Ignaz Pleyel, dem Herausgeber und Widmungsträger der Fantasie. Der Versuch war jedoch nicht von Erfolg gekrönt. Das Werk erschien um 1817 erneut bei Antoine Meissonnier in der üblichen Gitarrennotation.
Koch, Heinrich Christoph: Musikalisches Lexikon, welches die theoretische und praktische Tonkunst, encyclopädisch bearbeitet, alle alten und neuen Kunstwörter erklärt, und die alten und neuen Instrumente beschrieben, enthält. Frankfurt am Main: August Hermann, 1802.
Ledhuy, Adolphe/Henri Bertini: Encyclopédie pittoresque de la musique, rédigée par une société d'artistes et d'hommes de lettres, sous la direction de MM. Adolphe Ledhuy et Henri Bertini, et ornée de planches et de figures dessinées par Hippolyte Adam. Tome premier. Paris: H. Delloye, 1835.
Molitor, Simon: Große Sonate für die Guitare allein, als Probe einer besseren Behandlung dieses Instruments, mit beigefügten Anmerkungen für den Spielenden. Gesetzt und Herrn Fr. Tandler gewidmet von S. Molitor. Mit einer Vorrede des Verfassers, enthaltend eine historische Darstellung der Hauptperioden der Cyther und ihrer Abstämmlinge von den ältesten bis auf unsere Zeiten, nebst Gedanken über die Guitare und deren Behandlung. 7tes Werk. Wien: Artaria und Comp., [1806].
Müller, A[ugust] E[berhard]: Klavier- und Fortepiano-Schule, oder Anweisung zur richtigen und geschmackvollen Spielart beyder Instrumente nebst einem Anhang vom Generalbaß. Jena: Friedrich Frommann, 1804.
Briso de Montiano, Luis: Gitarrenmusik in kurzen Fortsetzungsveröffentlichungen und Zeitschriften in Madrid (1788-1830). In: ETGA-Journal 11/2018, Ausgabe 5, S. 24-47.
Heck, Thomas F.: Mauro Giuliani: Virtuoso Guitarist and Composer. Columbus: Editions Orphée, 1995.
Ophee, Matanya: Die Entstehung der "modernen" Gitarrennotation in neuem Licht. In: Gitarre & Laute 5 (1983), Heft 4, S. 247-253.
Schmitz, Peter: Ergänzende Bemerkungen zur Einführung der modernen Gitarrennotation in Wien. In: Gitarre & Laute 16 (1994), Heft 2, S. 17-21.
Elliker, Calvin (2002): A bibliographical footnote to Benton and Halley: Discovery of Jean-Baptiste Phillis's methode courte et facile.
URL: https://www.thefreelibrary.com/A+bibliographical+footnote+to+Benton+and+Halley%3a+Discovery+of...-a083914839 [02.08.2024]
V: 04.12.2021
LA: 03.10.2024
Autor: Dirk Spönemann